Sehnsucht nach Owitambe
wirklich verletzt sind. Dagegen ist Ihre Schramme wie ein Mückenstich.«
»Das ist unerhört und nicht wahr!«, keifte Achim aufgebracht. »Die Verletzten draußen sind nur Schwarze. Sie können zu ihnen gehen, wenn Sie mit mir fertig sind. Kommen Sie sofort zurück!«
Jella verließ den aufgebrachten Achim kopfschüttelnd. Isabella folgte ihr schweigend.
»Er versucht so zu sein wie sein Vater«, versuchte sie ihren Sohn halbherzig zu entschuldigen. »Dabei ist er schwach und ängstlich wie seine Mutter. Er ist grausam und ungerecht, nur um seinem Vater zu imponieren. Doch Rüdiger fordert immer mehr von ihm, als er überhaupt zu leisten vermag.«
Jella war Achims Verhältnis zu seinem Vater im Moment herzlich egal. Sie überlegte fieberhaft, was sie mit dem Mann mit dem Bauchschuss machen sollte. Wahrscheinlich steckte die Kugel noch in seinem Bauch. Die Gefahr einer Infektion war sehr hoch, außerdem befürchtete sie einen Einbruch von Organen oder Organteilen. Sie musste schnell handeln. Doch was sollte sie tun? Wenn der Mann überleben sollte, dann musste sie ihn operieren. Aber sie war keine Ärztin. Zwar lernte sie eifrig aus Fritz’ Büchern und kannte sich theoretisch in vielen Dingen
aus. Aber es war doch etwas völlig anderes, es auch in die Praxis umzusetzen. Außerdem war sie allein. Jetzt bereute sie es doch, dass Fritz nicht mitgekommen war. Er war der Arzt. Mit seiner ruhigen Art hätte er ihr bestimmt gesagt, was sie tun sollte. Der Mann, ein ziemlich hellhäutiger Orlam um die vierzig, lag in einem Nebenzimmer auf einer Pritsche. Er wand sich vor Schmerzen und stöhnte, während aus dem Einschussloch in seinem Bauch unentwegt Blut sickerte. Jella befreite ihn von seinem Hemd und versuchte die Blutung zu stoppen, indem sie mit einem Tupfer Mull und saubere Tücher in die Wunde drückte. Je mehr Blut der Mann verlor, desto geringer waren seine Überlebenschancen. Gleichzeitig suchte sie nach der Stelle, an der die Kugel ausgetreten war. Vergeblich; das Geschoss befand sich also noch in seinem Körper. Der Orlam hatte starke Schmerzen. Er griff nach Jellas Hand.
»Wasser«, bat er flehend. »Ich solchen Durst.«
Doch Jella verweigerte es ihm. Die Gefahr, dass der Magen verletzt war, war viel zu groß. Ihr tat der Mann leid, aber sie konnte nicht viel für ihn tun. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie. Warum nur war sie keine ausgebildete Ärztin? Dann hätte sie ihm bestimmt helfen können. Das Einzige, was sie tun konnte, war, dem Mann etwas Laudanum zu verabreichen. Dann würden seine Schmerzen wenigstens erträglich werden. Als sie das getan hatte, beruhigte sich der Orlam tatsächlich. Seine Augen trübten sich ein und blickten haltlos ins Leere. Mittlerweile hatte Jella die Blutung einigermaßen in den Griff bekommen. Sie verband die Wunde und beschloss, nach den anderen zu sehen. Isabella und Josua folgten ihr wie ein Schatten. Zu dritt behandelten sie die Verletzten und sorgten dafür, dass die Toten beerdigt werden konnten. Jella schonte sich nicht. Unermüdlich eilte sie von einem Kranken zum nächsten, bis sie plötzlich ein heftiges Ziehen in ihrem Bauch spürte, das sie vor Schmerz aufschreien ließ.
Isabella war sofort bei ihr. »Ist etwas mit Ihrem Baby?«, fragte sie besorgt. »Mein Gott, Sie sind ja ganz bleich! Setzen sie sich!«
Sie führte Jella zum Haus und nötigte sie, sich im Salon auf die Chaiselongue zu legen. Erst jetzt merkte Jella, wie erschöpft sie war. Die Verletzten hatten sie so in Anspruch genommen, dass sie überhaupt nicht an das Baby gedacht hatte. Dankbar nahm sie ein Glas Wasser entgegen und trank es in einem Zug leer. Zum Glück ließ das Ziehen nach einiger Zeit wieder nach und verschwand schließlich ganz. Es waren nur ein paar harmlose Vorwehen gewesen. Jella seufzte und lehnte sich zurück. Was für ein Tag! Isabella hatte ihr unterdessen aus der Küche etwas zu essen bringen lassen. Gern griff sie nach einem der belegten Brote und biss herzhaft hinein. Isabella saß ebenso erschöpft neben ihr.
»Sie müssen auch etwas essen«, forderte Jella sie auf. Doch Isabella schüttelte nur müde den Kopf. »Ich habe keinen Appetit. Allein der Gedanke an Essen lässt mich schaudern.«
Jella stutzte. Während sie ihr Brot aß, beobachtete sie Isabella von Nachtmahr und machte sich so ihre Gedanken. Die Baronin war völlig ausgemergelt. Ihre Haut schimmerte nach wie vor gelblich. Offensichtlich hatte sie die Entzündung ihrer Leber immer noch nicht
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