Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
bei der Zeremonie und wischte sich immer wieder mit einem Spitzentaschentuch über die Augen.
»Ach«, jammerte sie danach. »Wie anders ich mir das doch vorgestellt habe. Ein weißes Kleid, ein großes Fest. Und trotzdem: Ich freue mich, dass mein Sohn doch noch glücklich wird. Ich habe es schon nicht mehr zu hoffen gewagt.«
Malu legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Es tut mir leid. Aber Esther wird es bestimmt besser machen als wir.«
Die Mutter sah sie an. »Kind, ich freue mich, dass du nun zu unserer Familie zählst. Es ist keine einfache Sache, in diesen Zeiten, einen Juden zu heiraten. Denk an Deutschland. Dort wird es uns bald an den Kragen gehen. Du hast Mut. Du bist stark. Vielleicht stärker als mein David. Versprich mir, dass du gut für ihn sorgst.«
Malu nickte und nahm die Hand der alten Frau fest in ihre. »Ich verspreche es. Ich werde immer so gut für David sorgen, wie ich es kann.«
Die kleine Gesellschaft verließ das Standesamt, als wären sie ganz normale Besucher. Davids Anzug war ohne Blume am Revers und Malus Kleid so schlicht, dass jeder denken konnte, sie hätten nur einen Pass beantragt. Nur das Sträußchen aus Margeriten, das die Braut im Arm hielt, zeugte von einem feierlichen Anlass.
Als sie das Rathausgebäude verließen, musste Malu blinzeln. Die Sonne schien hell an diesem Tag, und der Himmel hing wie ein Marienmantel über der Stadt.
Sie drückte Davids Hand. »Ich bin jetzt deine Frau«, sagte sie.
Er nickte. »Marie-Luise Salomonow. Wie klingt das?«
Malu lächelte und seufzte in einem. »Es fühlt sich gut an.«
Für einen Augenblick erfasste sie ein leichter Schwindel. Sie taumelte, doch sogleich war Davids Arm da, der sie hielt und stützte.
»Ich habe einen Tisch im besten Restaurant der Stadt reserviert«, raunte David ihr zu. »Wenn unsere Hochzeit schon kein großes Ereignis wird, sollten wir doch wenigstens gut und reichlich essen.«
Malu lächelte ihn dankbar an. So ist er, dachte sie. Mein Mann. Er denkt an alles.
Dann ließ sie langsam den Blick über den Platz vor dem Rathaus schweifen, und als sie den Kopf ganz zur Seite gewandt hatte, stockte ihr der Atem: An eine Laterne gelehnt, die Beine über Kreuz, stand Janis. Obwohl zwischen Malu und ihm mehr als zwanzig Meter lagen, konnte sie seinen Blick spüren. Er brannte sich in ihr Herz, hinterließ dort ein schwarzes Loch, das nichts und niemand flicken konnte.
Dreiunddreißigstes Kapitel
Riga, 1923
D er Brief lag noch auf dem Tisch, als Malu nach der Hochzeitsnacht am nächsten Morgen in die Küche kam, um Frühstück zu machen.
Sie war glücklich. Nicht überschäumend, aber auf eine stille, heitere Art. »Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehen«, summte sie, küsste das Kind, strich ihm über die Wange und setzte den Wasserkessel auf den Herd.
Dann nahm sie den Brief auf, drehte ihn und las Isabels Adresse. Etwas in ihr ließ sie zögern, doch dann griff sie nach einem Messer und schlitzte den Umschlag auf.
Liebe Malu,
es tut mir leid, Dir das schreiben zu müssen, aber ich weiß mir keinen anderen Rat mehr. Es geht um Constanze. Es geht um ihre Kokainsucht, und es geht auch um Deinen Bruder Ruppert.
Constanzes Zustand hat sich in den letzten Wochen und Monaten verschlechtert. Sie wurde immer schmaler, alles drehte sich nur noch um die Droge. Schließlich, und das bedrückt mich wirklich, hat Ruppert sie in ein Irrenhaus einliefern lassen. Constanze lebt, nein, sie vegetiert nur in der Städtischen Heil- und Pflegeanstalt Herzberge in Berlin-Lichtenberg. Einmal habe ich versucht, sie dort zu besuchen, doch der Direktor ließ mich nicht zu ihr. Und so wissen wir alle nicht, wie es ihr geht und ob sie Hilfe braucht. Mit Ruppert ist in dieser Angelegenheit nicht zu sprechen. Für ihn ist sie ein Suchtwrack, das weggesperrt oder ausgelöscht gehört.
Ich weiß nicht, ob Du von ihm Briefe erhältst. Jedenfalls ist er der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beigetreten. Er trägt eine Uniform und wettert beständig gegen die Dekadenz, die er in unserem Leben erkannt haben will. Er spricht von Volksgenossen, von der Volksseele und von der Überlegenheit der deutschen Rasse. Malu, ich habe Angst vor ihm. Und ich habe Angst um Constanze. Bitte, tu Du etwas. Wir sind mit unserem Latein am Ende.
In Liebe
Isabel
Malu ließ den Brief sinken. Eine kalte Faust hatte sich um ihr Herz gelegt. Constanze in der Irrenanstalt! Malu wusste noch aus ihrer Zeit als Lazarettschwester,
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