Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
wie es in solchen Einrichtungen zuging. Die Patienten trugen weiße Kittel mit langen Bändern, die bei Bedarf auf dem Rücken verschnürt wurden, sodass die Patienten sich nicht regen konnten. Ansonsten wurden sie eingesperrt wie wilde Tiere. Dreimal täglich bekamen sie etwas Essen aus einem Blechnapf und mussten mit den Fingern essen, weil sie mit einem Besteck sich oder anderen Schaden zufügen konnten. Sie hatten keine Betten, sondern schliefen auf Stroh. Sie hatten keine Ansprache, keine Behandlung, nichts. Es sei denn, sie waren in einer privaten Klinik untergebracht. Doch die Heilanstalt Herzberge war eine öffentliche Einrichtung und somit eher eine Verwahr- als eine Heilstätte.
Malu presste den Brief an ihre Brust. Ein tiefer Schluchzer drang in ihre Kehle, wurde dort zum Schrei.
Viola erschrak und stimmte in Malus Weinen ein.
David kam in die Küche. »Was ist los?«
»Constanze, meine Freundin …« Stockend berichtete Malu ihm, was sie erfahren hatte.
»Du musst mit deinem Bruder telefonieren«, antwortete David. »Nach dem Frühstück gehen wir in die Praxis. Dort habe ich ein Telefon.«
Ruppert war beim zweiten Klingeln am Apparat. Seine Stimme klang schlaftrunken, obwohl es mittlerweile fast Mittag war.
»Wo ist Constanze?«, fragte Malu, ohne sich lange mit der Begrüßung aufzuhalten.
»Sie ist dort, wo man ihr helfen kann.« Rupperts Stimme klang gleichgültig. »Und wenn man ihr nicht mehr helfen kann, so ist sie wenigstens an einem Ort, an dem sie weder für sich noch für andere eine Gefahr darstellt.«
»Was wird dort mit ihr gemacht? Bekommt sie eine Behandlung?«
»Sie wird schon alles haben, was sie benötigt.«
Malu spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg. »Ruppert!«, schrie sie in das Telefon. »Du kümmerst dich nicht um deine Mutter. Es scheint dir gleichgültig zu sein, dass sie inzwischen im Armenhaus lebt. Aber kümmere dich wenigstens um die Mutter deines Kindes. Das ist, verdammt noch mal, deine Pflicht. Du hast ein Kind, Ruppert, vergiss das nicht!«
Ruppert lachte scheppernd. »Constanze hat es mit jedem getrieben«, erklärte er kurz und bündig. »Ich habe kein Kind. Bestimmt nicht. Weiß der Geier, wer ihr den Bastard untergeschoben hat.«
»Kümmer dich um sie!«
»Wie stellst du dir das vor? Ich bin ein Geschäftsmann, habe politische Ämter. Meine Zeit ist ohnehin knapp. Was soll ich mir da die Sorge um eine Süchtige ans Bein binden?«
»Du kennst sie seit Kindertagen!«
»Na und? Auch du kennst sie so lange. Wenn dir etwas an ihr liegt, dann kümmere du dich doch selbst um sie.«
»Das würde ich«, bestätigte Malu. »Oh ja, das würde ich. Aber mir fehlt das Geld. Mein Geld, das deine Mutter dir nach Berlin geschickt hat.«
»Es ist unsere Mutter.«
»Oh nein, mein Lieber! Es ist allein deine Mutter. Ich hatte niemals eine.«
»Meinetwegen. Das Geld habe ich gebraucht. Wer weiß, vielleicht kann ich dir eines Tages sogar einen Teil davon zurückgeben. Aber du siehst doch ein, dass es geschmacklos wäre, wenn eine Mörderin das Geld ihres Opfers ausgäbe?«
Er lachte, und Malu hieb mit der Faust so fest auf den Tisch, dass ein Bürolocher in die Höhe sprang. Dann warf sie den Hörer auf die Gabel. Sie sprang auf und ging zur Toilette. Dort wusch sie sich die Hände, als klebte etwas an ihnen.
David hatte die ganze Zeit im Türrahmen gelehnt. Er fragte nichts, und er sagte nichts. Doch seine Augen leuchteten. Er trat auf sie zu, umarmte sie und küsste sie. »Ich liebe dich«, sagte er. »Du bist ein so guter Mensch.«
Malu schüttelte den Kopf und wollte protestieren, doch er verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. Und als er sie losließ, lächelte er und verkündete: »Es ist Zeit, dass ich dir mein Hochzeitsgeschenk zeige.«
Obwohl Malu ganz und gar nicht an einem Geschenk interessiert war und sie Constanze einfach nicht aus dem Kopf bekam, war sie doch dankbar, dass David an ihrer Seite war. Hand in Hand überquerten sie die Brücke über der Düna. Vom Fluss stiegen Nebelschwaden auf, der Himmel hing so tief, dass es schien, als ruhe er auf den Dächern der Stadt. Malu spürte Davids starke, warme Hand, und plötzlich wurde auch ihr ganz warm.
»Ich werde meinen Laden wiedereröffnen«, sagte sie spontan. »Ich fange ganz klein an, miete mir nur ein winziges Eckchen irgendwo. Meine Verträge mit dem KaDeWe muss ich sowieso erfüllen. Und dann, wenn es uns finanziell etwas besser geht, hole ich Constanze aus der Heilanstalt. Sie braucht eine
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