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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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Auch der Tannenbaum im Salon, der über und über mit glänzenden Kugeln und silbernen Fäden bedeckt war, wurde abgeschmückt, die Kerzenhalter, Kugeln und die Spitze ordentlich in Zeitungspapier gehüllt und in Kisten verstaut, denn das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest, welches viele der Bediensteten feierten und das in der Nacht vom sechsten auf den siebenten Januar stattfand, war ebenfalls vorüber. Das Gut kehrte langsam zum Alltag zurück.
    Auf dem Rasen glitzerte der Reif in der blassen Sonne, immer wieder wirbelte der Wind ein paar Schneeflocken auf, und die Auffahrt war zu beiden Seiten von einem meterhohen Schneeberg begrenzt. Es war kalt im Baltikum. Die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. In allen Räumen waren die Kachelöfen geheizt, aus dem Kamin stieg der Duft von glühenden Buchenscheiten auf. Die Menschen waren in dicke wattierte Jacken gehüllt. Die Männer trugen Fellmützen auf dem Kopf, die Frauen hüllten Kopf und Schultern in warme Tücher. Jeder, der hatte, steckte die Hände in dicke Handschuhe. Die weniger begüterten Leute umwickelten ihre Füße mit Lappen oder Zeitungen, ehe sie in ihre Stiefel stiegen. Verließ man das Haus, so bildete der Atem eine dichte weiße Wolke vor dem Mund. In den Bärten der Männer bildeten sich winzige Eiszapfen, an besonders kalten Tagen konnte man sogar sehen, wie der Atem gefror.
    Malu und Ruppert hatten Anweisungen, das Haus nicht zu verlassen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Sie hockten den halben Tag auf der Bank, die sich rings um den Kachelofen zog, und spielten mit der Kinderwärterin Karten. Cäcilie von Zehlendorf verließ tagsüber nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten ihr Gemach, sondern ließ sich nur regelmäßig heißen Tee mit Honig von Ilme im Samowar zubereiten.
    Abends bekam Malu ein Fell über ihr dickes Federbett und eine kupferne Wärmflasche an die Füße. Das geschah gegen neun Uhr. Danach schloss die Kinderwärterin Marenka ihre Tür; und Malu hatte ihr Zimmer bis zum Morgen nicht mehr zu verlassen. Denn nur am Abend gelang es ihrer Mutter unter den größten Anstrengungen, sich für eine Stunde oder zwei hinunter in den Salon zu begeben, um von ihrem Mann die neuesten Nachrichten aus St. Petersburg und Riga zu hören.
    Seit Monaten schon grummelte es im gesamten Land. Und in den ersten Januartagen waren in ganz St. Petersburg Streiks ausgebrochen. Werften, Manufakturen, Webereien, sogar die Putilow-Werke standen still. Cäcilie bekam Angst.
    »Was, um Gottes willen, hat das alles zu bedeuten?«, fragte sie ihren Mann.
    Wolfgang von Zehlendorf strich sich über den Backenbart. »Die Menschen in der Stadt leben lange nicht so gut wie wir hier auf dem Land. Im Vergleich zu den Arbeitern der Putilow-Werke geht es unserem Gesinde wie im Himmel. Die Arbeiter haben es satt, wie Tiere behandelt zu werden. Sie wollen menschenwürdige Lebensbedingungen, genug Brot auf dem Tisch und eine Zukunft für ihre Kinder. Die Bauern verlangen Agrarreformen, und allesamt sind sie für die Schaffung einer Volksvertretung.«
    »Eine Volksvertretung? Was soll das sein?« Cäcilie von Zehlendorf schüttelte empört den Kopf. »Meinen sie etwa, jeder Dahergelaufene könnte über die Geschicke vieler bestimmen? Das ist unmöglich. Diesen … diesen Leuten da, denen fehlt es doch an allem. Sie haben keine Bildung, keine Kultur, keine Manieren.« Sie hob beide Hände. »Der Herr möge verhüten, dass jemals einer, der gerade mal seinen Namen schreiben kann, über uns bestimmt. Und die Agrarreformen. Was hat das zu bedeuten?«
    »Zilchen, bitte beruhige dich. Noch ist nichts entschieden. St. Petersburg ist weit. Ich glaube nicht, dass wir hier im Baltikum etwas von den Unruhen spüren werden.«
    »Was hört man heute aus St. Petersburg? Bist du sicher, dass dies alles spurlos an uns vorübergeht?«
    »Ein orthodoxer Priester, Vater Georgi Gapon, soll Zehntausende von Arbeitern durch die Stadt auf einem Marsch zum Winterpalais geführt haben. Doch sie kamen nicht bis zum Zaren Nikolaus II. Schon am Narva-Tor wurden die Demonstranten von der Palastwache und den Soldaten aufgehalten.« Seine Stimme wurde leiser, und er legte seiner Frau eine Hand auf den Unterarm. »Sie haben in die Menschenmenge geschossen. Es hat Tote gegeben und Verletzte. Einige wollten über die Newa fliehen und sind im Eis eingebrochen.«
    »Wie bitte?« Cäcilie von Zehlendorf schrie leise auf. »Tote? Wie viele Tote gab es?«
    Ihr Mann zuckte mit den Schultern. »Niemand

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