Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
die Feiertage und die Ferien hier verbringen.«
»Nein!« Cäcilies Stimme, ansonsten klein und blass, entwickelte mit einem Mal eine nahezu erschütternde Kraft. »Der Junge bleibt hier. Er ist noch zu klein, um aus dem Haus zu gehen.«
»Nun, meine Liebe, da bin ich anderer Meinung. Sieh ihn dir doch an: bleich, schwächlich, ungeübt in allen Dingen, die Jungs in seinem Alter tun. Er muss heraus – muss unter Gleichaltrige. Nicht einmal mit Johann, dem Pfarrerssohn, spielt er. Er sei ihm zu grob, hat er mir gesagt. Dabei ist Johann ein ganz normaler, richtiger Junge.«
»Johann ist nicht von Adel! Ein ganz ordinärer Junge ist er, der sich geehrt fühlen sollte, wenn Ruppert ihn auch nur einmal ansieht. Nein, mein Sohn bleibt hier!«
Cäcilie von Zehlendorf richtete sich von ihrer Récamiere auf und griff nach dem Laudanumfläschchen. Ihr Blick war waidwund, und Wolfgang von Zehlendorf zerriss es das Herz, doch dieses Mal gedachte er, seinen Willen durchzusetzen.
»Wir müssen nicht streiten, Liebling. Ich habe bereits alles in die Wege geleitet. Am Montag werde ich ihn auf die höhere Schule nach Riga begleiten. Ilme hat Anweisungen, seine Sachen zu packen.«
»Nein!« Dieses Mal klang das Wort wie ein Schrei. Cäcilie begann zu zittern, ihre Schultern bebten, die Brust hob und senkte sich in raschen Stößen. »Warum willst du mir noch den Sohn nehmen, wo ich schon die Tochter verloren habe?«
Wolfgang von Zehlendorf sah auf seine Hände hinab, die sich in seinem Schoß zu Fäusten geballt hatten. »Du hast deine Tochter nicht verloren«, erwiderte er leise. »Malu ist da. Du kannst mit ihr sprechen, sie berühren, sie hören und sehen.«
Seine Gattin schloss die Augen und ließ sich gegen die Lehne sinken. »Die, die du meinst, ist nicht meine Tochter.«
»Meine Güte, Cäcilie! Warum kannst du ihr nicht vergeben?«
»Mord verjährt nicht. Auch in meinem Herzen nicht.«
»Mord. Du bist die Einzige, die das so nennt.« Wolfgangs Stimme war lauter geworden. »Alle anderen bezeichnen es als ›Unfall‹ oder ›Unglück‹. Sie war vier Jahre alt, Herrgott! Sie wusste nicht, was sie da tat.«
Cäcilie seufzte. »Wir müssen nicht darüber sprechen. Es ist bekannt, dass wir in diesem Fall verschiedener Ansicht sind.«
»Du irrst dich, Cäcilie. Wir müssen darüber sprechen. Ich dulde es nicht länger, dass du Malu ignorierst, sie anschaust, als wäre sie ein besonders ekliger Wurm, und im Gegenzug Ruppert nach Strich und Faden verwöhnst. Du tust beiden Kindern damit nichts Gutes.«
Cäcilie lächelte schmerzlich. »Was willst du tun, Wolfgang? Ein Herz lässt sich nicht befehlen. Das müsstest du doch von uns allen am besten wissen.«
Wolfgang von Zehlendorf zuckte unter diesen Worten zusammen wie unter einem Schlag. Obwohl seine Frau es nicht ausgesprochen hatte, wusste er, was sie ihm zu verstehen geben wollte – dass sie ihn niemals geliebt hatte.
Er senkte den Kopf, fühlte sich plötzlich kraftlos und müde. So müde, dass er glaubte, nicht mehr aus dem Sessel aufstehen zu können. Er hatte früher gedacht, er wäre ein starker Mann, ein echtes baltisches Mannsbild mit breiten Schultern und der Kraft, einen kleinen Bullen auf der Weide umzustoßen. Er hatte früher gedacht, nichts könnte ihm Angst bereiten, vor nichts und niemandem würde er den Kopf einziehen. Doch da hatte er Cäcilie noch nicht gekannt. Jetzt war sie es, die seinem Leben eine Bedeutung gab. Sie – die Schöne, die Kultivierte. Sie allein hatte die Macht, ihn zu erheben oder in den Staub zu stoßen. Seit Jahren kämpfte er um ihre Liebe. Ein Lächeln von ihr machte ihn glücklich, eine Berührung selig. Seit er mit ihr verheiratet war, besaß er keine eigene Kraft mehr. Klein, dumm, unzulänglich. Genau das war er. Mit einem Blick konnte sie ihn vernichten, mit einer Geste zum Zwerg schrumpfen lassen.
Sie hob die Arme und strich sich mit den Händen über das aufgesteckte Haar. »Nun, so ist es also beschlossen. Wir werden für Ruppert einen Lehrer suchen, der ihn hier unterrichtet. Er wird selbstverständlich nicht nach Riga gehen.«
»Und die Kleine?«
Cäcilie zuckte verächtlich mit den Schultern. »Soll sie machen, was sie mag. Möglichst so, dass ich sie nicht sehen muss.«
Wieder fühlte sich Wolfgang, als hätte er einen Schlag bekommen. Doch dieser Schlag ging nicht nur gegen ihn, sondern gegen Malu, sein Sonnenkind – und sie musste er unbedingt schützen.
Er stand auf, straffte die Schultern und reckte
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