Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
das Kinn. »Ich komme dir entgegen, meine Liebe. Ich werde einen Hauslehrer finden. Aber der Unterricht wird nicht allein für Ruppert abgehalten. Er braucht Altersgenossen. Ich werde Pfarrer Mohrmann fragen, ob er seine und unsere Kinder zusammen unterrichten kann.«
Cäcilie schrak hoch und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch Wolfgang von Zehlendorf brachte sie mit einer Hand zum Schweigen.
»Du bist still jetzt!«, herrschte er sie an. »Ich bin der Herr im Hause, und ich bestimme, was geschieht.«
Mit diesen Worten verließ er den Salon und schlug die Tür fest hinter sich ins Schloss.
Malu stand am Fenster, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, und sah hinaus in den Sturm. Hinter ihr hängte Ilme die frisch gewaschenen Musselinkleidchen in den Schrank.
»Sag, Ilme, sind der Wind und die Bäume sich gram?«, fragte Malu.
Ilme schloss die Schranktür und trat neben das Kind. »Warum fragst du das? Beide gehören zur Welt. Wind und Bäume sind weder gut noch böse. Sie sind einfach.«
Das Kind zog die Stirn in Falten. »Ich bin der Wind«, sagte sie. »Und die gnädige Frau ist die Birke.«
»Die gnädige Frau? Meinst du deine Mutter?«
Malu schüttelte mit großem Ernst den Kopf. »Nein, Mutter darf ich nicht mehr sagen, denn die gnädige Frau hat keine Tochter mehr. ›Früher vielleicht einmal‹, hat Marenka gesagt, ›aber nun nicht mehr.‹ Ich soll sie gar nicht ansprechen. Niemals. Und wenn ich über sie rede, soll ich ›gnädige Frau‹ sagen.«
Ilme seufzte. Sie zwinkerte die Tränen weg, strich der Kleinen über den Kopf und drückte sie kurz an sich. »So etwas sollte kein Kind sagen müssen«, murmelte sie, bevor sie fragte: »Du bist also der Wind?«
Malu nickte ernsthaft. »Ja, der Wind. Das bin ich. Und die Birke, das ist die gnädige Frau. Wenn ich nicht da bin, dann steht sie still und schön und ist ganz ruhig. Ihre Blätter wispern vor sich hin, singen ein Lied. Wenn aber der Wind kommt und an ihren Blättern rupft und reißt und die dünnen Zweige abbricht und den Stamm beugt, dann ist es wie manchmal bei der gnädigen Frau. Wenn sie mich sieht, bekommt sie einen nervösen Anfall. Wegen des Windes ist alles gesträubt und biegt sich hierhin und dorthin. Und niemand kann helfen, niemand kann den bösen Wind vertreiben, der doch der Birke so wehtut. Und wenn er weg ist, der Wind, dann hat die Birke keine Schönheit mehr. Ganz still steht sie, genau wie die gnädige Frau hernach, und muss sich von dem schrecklichen Wind erholen und Angst haben, dass er wiederkommt und sie wieder zaust und zu Boden biegt.«
Jetzt rannen Ilme die Tränen aus den Augen. »Wer sagt denn so etwas, Kind?«
»Keiner, Ilme. Das weiß ich. Ich bin der Wind, der alles durcheinanderbringt und alles zerstört.« Die Kleine sah die Hofmeisterin an. »Ich bin böse, weißt du. Aber ich bin es nicht mit Absicht. Jeden Tag gebe ich mir solche Mühe, kein Wind zu sein. Ich gehe weg, wenn ich die gnädige Frau sehe. Ich schließe die Augen, wenn sie mich zufällig ansieht, ich halte mir die Ohren zu, wenn sie singt. Aber manchmal fährt das Böse wie der Wind in mich herein und macht alles kaputt.« Malu fasste vorsichtig nach Ilmes Hand. »Du musst nicht weinen, Ilme«, sagte sie leise. »Der Wind ist zwar böse, aber er ist auch stark. Viel stärker als die Birke.«
Viertes Kapitel
Gut Zehlendorf (Lettland), 1905
I mmer endete das Jahr auf dem Gut mit einem prunkvollen Silvesterball. Wenn Cäcilie von Zehlendorf auch sonst große Gesellschaften scheute, auf den Silvesterball bestand sie, war er doch eine der wenigen Gelegenheiten, die neue Garderobe aus Riga vorzuführen. Die Nachbarn waren eingeladen, es gab Sekt und um Punkt Mitternacht ein Feuerwerk. Die Mägde hatten in den Tagen zuvor das gesamte Anwesen mit Fackeln geschmückt. In den mit Eis überzogenen Ästen der Obstbäume hingen rote Äpfel aus Holz, die mit Öl zum Glänzen gebracht worden waren. Selbst die Kinder durften an diesem Tag bis Mitternacht aufbleiben. Constanze, Johann und Malu mussten dem Ball selbstverständlich fernbleiben, aber Ilme hatte ihnen heißen Früchtepunsch in die Küche gestellt, während Ruppert im großen Saal die Damen herumschwenkte und sich ganz als kleiner Kavalier fühlen durfte.
Das Fest war gerade erst vorbei, im Garten lagen noch die Reste der Feuerwerkskörper, da holten die Mägde wieder die Leitern und nahmen die Äpfel und Sterne ab, verstauten sie in Kisten und brachten sie auf den Dachboden.
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