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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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schlüpfte sie rasch in die weiße Schürze der Krankenpflegerin, stülpte sich das Häubchen aufs Haar und eilte zurück zum Eingang, wo das Fuhrwerk mittlerweile eingetroffen war.
    Constanze stellte sich neben sie. Sie war blass und zitterte ein wenig. Malu legte ihr kurz einen Arm um die Schultern. »Hab keine Angst. Nikolai wird nicht dabei sein. Und auch Janis nicht.«
    Ihre Worte klangen fest, doch auch sie zitterte bei jedem neuen Transport. Einerseits fürchtete sie, Janis unter den Verletzten zu finden, andererseits hoffte sie es. Seine Briefe waren immer spärlicher geworden. Er schrieb ihr niemals vom eigentlichen Krieg, von seinen Erlebnissen oder von seinen Empfindungen. Sachlich schilderte er seinen Tagesablauf, erzählte vom stundenlangen Warten im Schützengraben und vom Kartenspiel. Nie jedoch berichtete er von Schlachten, Angriffen, Toten, nie von dem, was er dabei fühlte. Am Ende unterzeichnete er mit: Dein Janis. Jetzt und immer.
    »Wenn der Krieg doch endlich zu Ende wäre«, flüsterte Constanze, bevor sie tief Luft holte und einem der Verwundeten vom Fuhrwerk herunterhalf.
    Malu verteilte an diejenigen, die gehen konnten, Becher mit süßem Tee, führte andere zu hölzernen Rollstühlen und half mehreren auf die Tragen. Ein russischer Arzt, Dr. Kusnezow, untersuchte die Leute. Constanze saß an einem Schreibtisch und legte für jeden eine Patientenakte an, während Malu dem Arzt assistierte.
    »Armdurchschuss!«, rief Kusnezow, und Constanze notierte den Befund. Der junge Mann, der vor Kusnezow saß, hielt sich den Arm und weinte wie ein kleines Kind. »Mama«, wimmerte er. »Mama.«
    Malu strich ihm über die Wange. »Wie alt bist du?«
    »Gerade achtzehn geworden«, schluchzte der Verletzte und sah sie aus kinderblauen Augen an. »Ich will nicht zurück an die Front. Niemals mehr, Fräulein. Es … es war so schrecklich. Ich habe jemanden erschossen. Bitte, ich will nicht zurück.« Wieder brach er in Tränen aus.
    Malu strich ihm über den Kopf. »Es ist Krieg«, erwiderte sie leise. »Jeder muss tun, wozu er fähig ist.«
    Sie sah den Jungen mitleidig an. Niemand sollte so schreckliche Dinge sehen, dachte sie. Keiner sollte einen anderen töten müssen. Sie wusste aus ihrer Erfahrung im Lazarett, dass die meisten körperlichen Verletzungen heilten, aber so manche Seele sich niemals erholte von dem, was sie gesehen und gehört hatte.
    »Der Nächste!« Dr. Kusnezow schnippte ungeduldig mit dem Finger.
    Zwei Leichtverletzte setzten einen Mann mit blutigem Kopfverband auf den Stuhl.
    »Name?«
    »Anton von Antonien«, erwiderte einer von denen, die den Mann auf den Stuhl gesetzt hatten.
    Malu erschrak, und auch Constanze sah auf.
    »Anton?« Malu beugte sich über den Mann und wischte ihm mit einem Lappen behutsam das verkrustete Blut aus dem Gesicht. »Anton? Bist du das?«
    Sie erinnerte sich, wie sie mit ihm auf den Debütantenbällen übers Parkett gerutscht war. Ihr war damals aufgefallen, dass sein linkes Augenlid zuckte, wenn er sich aufregte. Und jetzt sah sie, dass da kein Augenlid mehr war. Auch kein Auge mehr. Nur noch ein schwarzes, blutverkrustetes Loch.
    Malu packte den Verwundeten bei den Schultern und schüttelte ihn sanft. »Du hast auch bei den Balten gekämpft. Hast du etwas von Janis gehört? Wart ihr zusammen? Nun sag schon.«
    Doch Anton von Antonien antwortete nicht.
    »Kopfschuss«, diktierte Dr. Kusnezow. »Linkes Auge fehlt. Verletzungen im Inneren des Schädels.«
    »Anton? Hörst du mich?« Malu rüttelte leicht an der Schulter des Mannes. Anton stöhnte auf, ließ dann den Kopf auf die Brust sinken.
    »Er wird ohnmächtig vor Schmerzen«, berichtete der eine Leichtverletzte, der neben ihm stand. »Manchmal wacht er auf und schreit zum Gotterbarmen.«
    Malu packte den Arzt beim Ärmel. »Morphin. Wir müssen ihm Morphin geben.«
    Doch Kusnezow schüttelte den Kopf. »Das lohnt nicht. Der überlebt die Nacht ohnehin nicht.«
    »Bitte, Doktor, ich kenne ihn«, sagte Malu mit Nachdruck. »Er ist ein Nachbar.«
    Der Arzt verneinte. »Sie wissen genau, dass wir viel zu wenig Morphin haben. Wir brauchen das Zeug für die, die eine Überlebenschance haben.« Er wandte sich an die beiden, die Anton gebracht hatten. »Legt ihn in den Saal. Vielleicht habt ihr Glück und findet noch einen freien Schlafsack. Dann kommt wieder.«
    Malu blickte zu ihrer Freundin. Constanze hatte Tränen in den Augen, ein bleiches Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. Doch es blieb keine

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