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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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hörst du mich?«
    Mühsam öffnete Wolfgang von Zehlendorf die Augen. Er öffnete den Mund, doch er hatte nicht die Kraft zu sprechen.
    »Ganz still, Vater. Sei ruhig. Ich bin bei dir. Ich bleibe bei dir.« Bis zum Tod, dachte sie, und ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken.
    Sie strich ihm über die Schultern, hielt seine Hand und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Manchmal schlief er ein, und Malu beobachtete jeden seiner Atemzüge. Hin und wieder öffnete er die Augen, sah sie mit brennenden Blicken an, versuchte zu sprechen. Dann wischte Malu ihm über die schweißnasse Stirn, flößte ihm ein wenig Wasser ein. »Schlaf wieder, Vater. Schlaf.«
    Als der Morgen graute, ging es dem Ende entgegen. Malu sah die Schweißtropfen auf der Stirn des Vaters, sie roch den nahen Tod, spürte schon jetzt die starre Kälte seiner Hände. Einmal noch schlug er die Augen auf, wollte sprechen.
    »Pscht!«, sagte Malu und strich ihm sanft über die aufgesprungenen Lippen.
    Der Vater schüttelte den Kopf, stöhnte dabei. Blut quoll zwischen seinen Lippen hervor – dunkles, dickes Blut.
    Malu stiegen Tränen in die Augen. Sie wusste, dass dies die letzten Minuten im Leben ihres Vaters waren. Oft genug hatte sie es bei anderen erlebt. »Pscht«, sagte sie noch einmal und begann, still für die Seele ihres Vaters zu beten.
    Wieder schüttelte Wolfgang von Zehlendorf schwach sein Haupt, öffnete den Mund, seine Lippen formten Worte.
    Malu beugte sich dicht zu ihm, sodass ihr Ohr beinahe seine Lippen berührte. »Du warst es nicht«, flüsterte ihr Vater mit schwacher, rauer Stimme. »Ich weiß, dass du es nicht warst … Ruppert … Er war es. Ich bin sicher … Verzeih mir … dass ich … dich verraten habe.«
    »Wovon sprichst du?« Malu strich ihm über das eingefallene Gesicht.
    »Camilla … Der Katapult … Du warst … es nicht.«
    Malu erstarrte, nahm die Hand ihres Vaters.
    »Pass … auf Ruppert auf. Er ist … kein guter Mensch. Du musst … ihm helfen«, hauchte er. »Verzeih mir.« Seine Augen schlossen sich. Ein letzter Atemzug wölbte seinen Brustkorb, dann war Wolfgang von Zehlendorf gestorben.
    Malu konnte nicht aufhören, in das Gesicht des Mannes zu starren, der sie so viele Jahre belogen hatte. Der so viele Jahre zugelassen hatte, dass sie sich schlecht und unzulänglich und grausam fühlte. Warum hatte ihr Vater das getan?
    Hatte auch er sie nicht geliebt?
    Russland und auch das Baltikum zogen sich am 3. März 1918 durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk aus den Kampfhandlungen zurück. Kurz danach war der Krieg vorbei, Deutschland geschlagen.
    Am 11. November 1918 wurde der Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet. Siebzehn Millionen Tote blieben auf den Schlachtfeldern, in den Städten und Dörfern zurück. Die überlebenden Soldaten – insgesamt zehn Millionen waren in den vier Kriegsjahren gefallen – kehrten endlich nach Hause zurück. Aber sie waren nicht mehr dieselben Menschen, die vor Jahren in den Krieg gezogen waren.
    Auch Janis gehörte zu den Heimkehrern, die der Krieg seelisch gezeichnet hatte. Nachts schrie er im Schlaf und fuhr oft mit rasendem Herzschlag hoch. Tagsüber zuckte er zusammen, wenn er ein lautes Geräusch vernahm. Nie sprach er über das, was er erlebt hatte, und Malu fragte ihn nicht, da sie ebenfalls nicht vermochte, von ihrer Arbeit im Lazarett zu erzählen.
    Ruppert war auf sein Gut zurückgekehrt. Seine Uniform war mit Abzeichen geschmückt. Er schien der Einzige zu sein, der den Krieg ohne innere oder äußere Blessuren überstanden hatte. Nichts an ihm hatte sich verändert. Gar nichts.
    Wenige Tage nachdem die Soldaten nach Hause zurückgekehrt waren, trafen sich Janis und Ruppert an der Gutsgrenze.
    »Soll ich dir zum Tode deines Vaters gratulieren oder kondolieren?«, fragte Janis.
    Ruppert steckte sich eine Zigarette an, die er nunmehr in einer Spitze rauchte. »Mach, was du willst. Es ist mir gleich. Hauptsache, ich habe jetzt das Sagen auf dem Gut.«
    Von Nikolai kam nichts. Kein Brief, keine Todesnachricht. Nichts. Und Constanze vergaß Nikolai, weil Ruppert erneut seine Ansprüche anmeldete.
    Arme Constanze, dachte Malu. Dumme Constanze. Wie kannst du dich ihm nur wieder an den Hals werfen, einfach nur, weil er es dir befiehlt?

Zehntes Kapitel
    Baltikum, 1918
    D er Krieg hatte nicht nur Leben verschlungen, sondern auch Träume und Hoffnungen.
    Malu war aus dem Tag gefallen – aus allen Tagen gefallen –, seit der Krieg vorüber war. Was

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