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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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sollte sie jetzt tun? Sie hatte in den letzten Jahren keine Zeit gehabt, um über ihre Zukunft nachzudenken, denn es hatte keine Zukunft gegeben. Nur die Gegenwart. Nur die zerrissenen, blutenden, röchelnden Männer, die sie mit keuchender Stimme gebeten hatten, sie endlich von ihren Schmerzen zu erlösen.
    Und jetzt war Frieden. Die Blumen blühten, Kühe brachten auf satten Weiden putzige Kälber zur Welt, die Sonne strahlte so unschuldig wie eh und je, und im Haus regte sich Ilme auf, wenn eines der Stubenmädchen einen Fleck auf der weißen Schürze hatte. Am Esstisch jedoch blieb ein Platz leer. Der Platz des Vaters.
    Malu spürte die Leere so schmerzhaft, dass sie kaum dorthin sehen konnte. Was war Gut Zehlendorf ohne ihren Vater? Verwalter Schwarzrock tat, was er konnte, doch er vermochte es nicht, den fröhlichen Gutsherrn zu ersetzen. Am liebsten hätte Ruppert ihn hinausgeworfen, aber nachdem der Krieg die Zahl der Männer so stark dezimiert hatte, würde er wohl keinen anderen Verwalter finden. Die Knechte gehorchten Schwarzrock immerhin, doch sie sahen nicht zu ihm auf. Die Milchmädchen taten, was er ihnen befahl, doch sie schickten dem Verwalter keine verliebten Blicke nach. Jetzt gab es keinen mehr auf dem Gut, der jede Kuh mit Namen kannte, der genau wusste, welches Pferd wann zuletzt beschlagen worden war und wie viele Säcke Kraftfutter noch in der Futterkammer lagerten.
    Malu empfand den Frieden wie eine Ruhe nach dem großen Sturm. Alles war zerstört, alles hatte sich verändert. Jetzt stand das Leben still, um denen, die es nötig hatten, Zeit zu geben, ihre Wunden zu lecken.
    Einzig für die Mutter und für Ruppert schien der Krieg Vorteile gebracht zu haben. Es gab nichts, rein gar nichts an Cäcilie von Zehlendorfs Verhalten, das erkennen ließ, ob sie ihren Mann vermisste. Sie vermisst ihn nicht, dachte Malu traurig. Im Gegenteil. Jetzt, nach so vielen Jahren, ist sie beinahe am Ziel ihrer Wünsche: mit Ruppert allein auf dem Gut zu leben.
    Malu selbst fühlte mehr denn je, dass sie störte. Oft kam sie zum Mittagessen und musste erfahren, dass das Mahl bereits vorüber war und niemand sie gerufen hatte. Nie wusste sie, wo Ruppert und die Mutter gerade waren. Und die Angelegenheiten des Gutes wurden ihr ebenfalls verheimlicht.
    Zugleich beunruhigten sie die Nachrichten, die von den anderen Gütern kamen. Erst vorgestern hatte ihr die frisch verheiratete Baronin von Grassnitz, die sie in Mitau beim Einkaufen getroffen hatte, von Plünderungen und Hausdurchsuchungen erzählt. Es hieß sogar, die Russen hätten einige baltische Grundbesitzer in ihre gefürchteten Straflager nach Sibirien verbannt. Noch kamen die Gerüchte nur aus Estland, aber Malu ahnte, dass auch die lettischen Gutsherren Grund zur Sorge hatten.
    Als Lettland am 18. November 1918 seine Unabhängigkeit erklärte, brach Panik unter den deutschen Gutsherren aus. Einige packten wieder einmal Kisten und Koffer und schickten ihre Familien nach Riga. Zweispännige Kutschen eilten zwischen den Herrenhäusern und den Bahnstationen hin und her. Das gesellschaftliche Leben wurde von Angst beherrscht, und nicht wenige siedelten ganz nach Deutschland über. Einige Gutssitze in der näheren Umgebung von Zehlendorf standen leer, und die weiblichen Bediensteten fragten jetzt, ob es auf Zehlendorf Arbeit für sie gäbe.
    Wenig später verabschiedeten die neuen Herrscher, das lettische Parlament, ein Gesetz, in dem festgelegt wurde, dass alle Güter des Baltikums enteignet werden sollten. Nur die deutschen Herren, die nicht bei den Russen, sondern bei den baltischen Regimentern ihren Dienst getan hatten, sollten verschont werden.
    Malu erschrak zutiefst, als sie davon erfuhr. Auch Gut Zehlendorf würde von dem neuen Gesetz betroffen sein! Zwar hatte ihr Vater bei den Balten gekämpft, aber er war tot. Ruppert, der jetzige Eigentümer, hatte dagegen in der russischen Armee als Offizier gedient. Er war sogar mehrfach ausgezeichnet worden.
    »Du weißt, was mit dem Gut geschehen könnte?«, fragte sie den Bruder eines Morgens, als sie sich zu ihm setzte. Sie legte die Zeitung auf den Tisch.
    Ruppert hob die Augenbrauen. »Was ist los? Hast du den Wetterbericht gelesen? Soll es Hagel geben?«
    Malu schüttelte den Kopf. Seit Ruppert von der Front zurückgekehrt war, traf er sich noch öfter als früher mit Gleichgesinnten zum Spiel und zum Trinken, suchte die wenigen Freudenmädchen auf, die es in der Region gab, und tat nur noch das, was ihm

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