Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Zeit für Trauer.
Der nächste Patient kam.
»Beinschuss mit Wundbrand!«, rief Kusnezow, und Constanze schrieb.
»Amputation am Knie. Bringt ihn in den OP. Ich bin in einer halben Stunde da.«
Der Arzt wandte sich an Malu. »Können Sie mir dabei assistieren?«, fragte er.
Malu schluckte und nickte. Sie konnte so viel mittlerweile, so viel, von dem sie gedacht hatte, dass sie es niemals beherrschen würde. Was war da ein Bein mehr oder weniger? Kusnezow würde es mit der Säge abtrennen. Sie würde es nehmen und in einen Eimer unter dem OP-Tisch werfen, und die Fliegen würden aufstieben. Und beim nächsten Mal würde es ein Arm sein oder eine Hand oder ein Fuß, und manchmal, wenn es ganz schlimm kam, musste sie am Ende der OP die Plakette vom Hals des Toten lösen, sie von seinem Blut reinigen und in die Verwaltung bringen. Nach der Schicht würde sie sich waschen, so gründlich es nur ging, aber den Blutgeruch würde sie auch diesmal nicht loswerden. Ebenso wenig den Anblick der Wunden, die Erinnerung an den gelben Eiter. Malu war, als würde sie den Rest ihres Lebens in Blut waten müssen. Doch sie schlief stets so schnell ein, war so erschöpft an Körper und Geist, dass sie niemals Zeit fand, über all das, was sie sah und tat und hörte und fühlte, nachzudenken.
Der nächste Patient wurde auf den Stuhl gezerrt. Er hatte beide Hände gegen den Bauch gepresst. Nein, nicht gepresst, wie Malu bei genauerem Hinsehen feststellte – man hatte sie ihm auf den Bauch gebunden, über ein Tuch, das vor Dreck starrte. Der Mann selbst war so grau, als wäre er längst tot.
»Bauchschuss!«, diktierte der Arzt. Er befreite die Hände, nahm das Tuch ab – und prallte zurück, als er die Därme sah und die Fliegen, die darauf saßen. »Der ist hin!«, rief er Constanze zu und bedeutete zwei Trägern, den Mann sogleich in die Leichenhalle zu bringen.
Nach sechs Stunden Arbeit spürte Malu ihre Arme und Beine nicht mehr. Ihre Schürze war mit Blut getränkt, ihre Augen waren rot unterlaufen. Auch Constanze schien am Rande der Erschöpfung zu stehen.
»Kleine Pause«, befahl Dr. Kusnezow und verließ den Aufnahmeraum.
Dann standen sie draußen und rauchten. Der Arzt seine ägyptischen Zigaretten, die er trotz des Kriegsmangels wer weiß woher bekam. Malu und Constanze teilten sich eine Gibson Girl und sahen still in den Mond, der blass und schmal am Himmel hing. Niemand sprach ein Wort.
Sie rauchten, streckten die Glieder, richteten die Häubchen. Dann gingen sie ins Gebäude zurück, um weiterzuarbeiten.
Auf der Treppe hielt ein anderer, jüngerer Arzt Malu am Ärmel fest. Sie kannte ihn; es war Dr. David Salomonow.
»Ein neuer Transport ist gekommen«, sagte er leise.
Malu zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. Es kamen immerzu neue Transporte. »Ja?«
»Ein Mann ist dabei. Nicht mehr jung. Er hat einen Lungensteckschuss.«
»Wie schade.«
Salomonow schluckte und räusperte sich, dann fügte er hinzu: »Sein Name ist Wolfgang von Zehlendorf.«
Malu wollte aufschreien, doch der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie stand mit offenem Mund und schüttelte den Kopf. »Wolfgang von Zehlendorf?«, wiederholte sie. »Und ist auch Janis Mohrmann dabei gewesen? Wissen Sie etwas von ihm?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich beeilen«, fügte er hinzu und wandte sich ab. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück. »Es tut mir sehr leid.«
»Nein!«, flüsterte Malu. »Nein, nein, nein, nein.«
Kusnezow hatte das kurze Gespräch mitgehört. »Gehen Sie!«, rief er ihr zu. »Wir kommen auch ohne Sie klar.«
Malu folgte Salomonow, als wäre sie eine Marionette, die an Fäden hing. Sie betrat den Krankensaal, sah die grauen Gestalten mit den blutigen Verbänden auf dem Boden liegen, hörte ihre Schreie und roch den Gestank nach Eiter, Blut, Angst und Verwesung.
Hinten in der Ecke waren ein paar Schlafplätze durch einen zerschlissenen Vorhang vom Rest des Saales abgetrennt. »Kommen Sie, er liegt hier.« Salomonow deutete auf ein graues Bündel am Boden, dessen Brust blutgetränkt war.
Malu trat zögernd näher. Mit jedem Schritt wallte eine Woge der Angst in ihr hoch. Es schien, als könne sie ihren Vater nur retten, indem sie nicht wahrnahm, was mit ihm geschehen war. Dann hockte sie neben ihm am Boden, strich mit der Hand über die eingefallenen Wangen, befühlte sein Haar, das ganz und gar grau geworden war. »Vater«, flüsterte sie. »Vater,
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