Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
gemalten Vasen mit Blumen und den zarten Präparaten aus der Botanik nicht mehr zu finden vermag. Wenn sie diese Werke heute betrachtet, erstaunt sie deren Unschuld und Heiterkeit und auch wie sehr sie sich selbst verändert hat. Wie viel düsterer ihre Vision des Lebens geworden ist. Man brauchte sich doch nur die Goldfelder anzusehen, um daran erinnert zu werden, dass Gewalt und Tod nie weit von der Oberfläche entfernt sind. Und doch wird von ihr als Frau erwartet, sich der anderen Richtung zuzuwenden, sich ungeachtet der Wahrheit der Schönheit zu widmen. Und so erfährt sie sich jedes Mal, wenn sie ihr Skizzenbuch und ihren Kohlestift zur Hand nimmt, mit der Welt im Unreinen.
Doch das Wissen, nicht allein zu sein, hält sie aufrecht. Bis zum Tod ihres Vaters war es eine schöne Gewohnheit gewesen, jede Woche gemeinsam die Staatsbibliothek aufzusuchen, um die überseeischen Zeitungen zu lesen. Jemma griff immer als Erstes nach der neuesten Ausgabe von Le Monde , um sich über die aufregenden Entwicklungen im Kampf der Künstler der französischen Akademie und einer Gruppe junger Maler auf dem Laufenden zu halten, die mit den alten Lehren der École des Beaux Arts brechen wollten. Wann immer ihr Lehrer sie dafür schalt, die Makel eines Aktmodells zu zeigen, anstatt die Proportionen der klassischen Form zu wahren, fühlte Jemma sich im Einvernehmen mit den jungen französischen Rebellen. Selbst jetzt noch hat sie die Holzschnitte aus Le Monde lebhaft in Erinnerung: Szenen aus Courbets Atelier voller junger Künstler, die sich trotzig den Meistern der alten Schule verweigern, oder Treffen der Künstler in Pariser Cafés, die leidenschaftlich darüber diskutieren, wie wichtig es ist, die Welt so zu malen, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte. Sie sehnt sich danach, die Werke zu sehen, von denen sie liest, mittendrin zu sein in diesem Gärungsprozess. Erst dann wäre sie unter Gleichgesinnten.
Sie hat den Schrei des Schweins noch in ihren Ohren, da schwingt sich von unter ihren Füßen ein so zauberhafter Klang empor, wie sie noch keinen gehört hat. Aus der dunklen Höhle des Weinkellers neben der Küche taucht das liebliche Gesicht von Marina Serafini auf, Plinys Ehefrau, die eine große Platte mit kaltem Braten, Käse und Oliven in ihren Händen hält. Sie gibt sich mit schwellendem Busen einem melancholischen Volkslied hin, das den versammelten Gästen sofort Tränen in die Augen treibt.
Jemma beobachtet, wie Plinys Freund Gotardo das Messer fallen lässt und losstürzt, um Marina die Platte abzunehmen und dann – als wäre die ganze Sache so geplant worden – plötzlich in ihr Lied einzustimmen. Noch mit Blut bespritzt steht er neben ihr, und sie singen wie einstudiert im Duett, schauen einander in die Augen, während sie dem Crescendo zusteuern, und halten den letzten Ton, bis der Applaus der Gäste sie übertönt. Unter Klatschen und Jubel erläutert Celestina, dass Marina in der Gegend für ihre außergewöhnliche Stimme bekannt sei und in den Hotels vor Ort unter dem Namen Signora Serenissima manchmal Konzerte gebe. Wie fast alles in der Stadt, was mit Essen und Trinken zu tun habe, seien auch diese Hotels überwiegend in italienischer oder Schweizer Hand.
Ein alter Mann in einer fuchsiafarbenen Weste hat zum Akkordeon gegriffen und spielt eine lebhafte Tanzmelodie, während die anderen Männer dazu rhythmisch klatschen. Summend und sich im Rhythmus wiegend decken die Frauen den Tisch und stellen die Stühle im Schatten einer langen Pergola auf, von der pralle rote Trauben hängen. Groß gewachsen wie ihr Bruder und redegewandt mischt Celestina sich immer wieder ein, um wie ein Impresario für eine Premierenvorstellung Anweisungen zu erteilen. Die Dramatik des Geschehens ist so ansteckend und unterscheidet sich so sehr von allen anderen Festen, denen Jemma beigewohnt hat, dass sie sich, noch bevor sie ihr erstes Glas Wein trinkt, leicht benebelt fühlt und den Mut aufbringt, ihr eingerostetes Italienisch an den anderen Gästen auszuprobieren. Und dabei stellt sie fest, dass sie beim Sprechen einer anderen Sprache aus sich herauskommt, diese es ihr ermöglicht, sich neu zu definieren.
Celestina tauscht lächelnd einen Blick mit ihr. »Habe ich dir nicht gesagt, dass es sich lohnen wird?«
Ihrer Befürchtung nach neigt Jemma dazu, sich allzu sehr zurückzuziehen. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie die tiefe Einsamkeit dieser jungen Frau gespürt. Es lag an ihrer bemüht aufrechten
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