Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
nachmittäglichen Exkursion ist es, ein kleines Tier, eine Eidechse vielleicht oder auch ein Meerestier zu finden, das sie zum Sezieren mit nach Hause nehmen können. Jemma möchte, dass Henry Klassifizieren lernt – mit Wirbeln oder wirbellos, kalt- oder warmblütig und die Benennung von Art und Spezies. Sie werden von dem Tier als Ganzes, so wie sie es gefunden haben, eine Skizze anfertigen, aber auch nach der Sektion, und die wichtigen Organe identifizieren. Als Jemma dieses Projekt vorschlug, war Henry voller Begeisterung darauf eingegangen. Bei seiner letzten Hauslehrerin hatte sich der Naturkundeunterricht auf das Zeichnen von Insekten, Seegras und Blumen beschränkt. Die ganze wunderbare Flora der natürlichen Welt reduziert auf einen Katalog von Keimblättern, Federchen und Keimwurzeln, trocken aufbereitet in M. A. Liversidges Elementary Botany . Und aufgeschnitten hatten sie auch nie etwas.
Doch als Jemma jetzt vorschlägt, den Zwergpinguin zu zeichnen, fällt Henry dann doch die Kinnlade herunter.
»Keine Sorge, wir werden ihn nicht sezieren«, versichert sie ihm. »Nicht so ein hübsches Geschöpf wie ihn.«
Sie finden eine trockene Stelle im Sand dicht am Fluss und holen ihre Skizzenblöcke heraus. Für eine Weile sind sie still damit beschäftigt, mit ihren grauen Bleistiften über das Papier zu gleiten, wobei ihre Augen zwischen dem toten Vogel und dem Blatt hin und her wandern. Hinter ihnen lecken kleine Wellen am Sand. Es ist so still, dass der gelegentliche Gesang des Glockenvogels die Luft bewegt wie ein Stein, der in einen Teich fällt. Henry glaubt, ihm seien Antennen gewachsen. Überall scheint das Leben zu summen.
Hin und wieder schielt er auf Mrs. Wright, wendet sich aber sofort wieder ab, damit sie ihn nicht dabei ertappt. Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so zufrieden gewesen ist. Er würde Mrs. Wright gern erzählen, wie gut er sich fühlt, doch dies hieße, ihr zu erklären, wie einsam er gewesen war und wie verzweifelt er seine Mutter vermisst, und da dies sicherlich in Tränen enden würde, lässt er es lieber sein.
Henry hat den Vogel gemalt und konzentriert sich nun auf das Umfeld. Er überlegt, wie schwer es ist, den Glanz der öligen Federn einzufangen und das durchsichtige Wasser des Flusses, da erhascht er einen Blick auf Mrs. Wrights Skizze, weil sie ihre Sitzposition verändert. Obwohl er ihre Zeichnung verkehrt herum und schräg sieht, fesselt sie ihn.
»Darf ich sie sehen?« Er streckt seine Hand danach aus.
Jemma zögert, gibt dann aber nach. Es sei eine grobe Skizze, sagt sie. Und keinesfalls so präzise und detailliert wie seine gute Arbeit.
Henry hat niemals Kunstunterricht genossen, doch seine Mutter hat ihn ermutigt und angeleitet. Alles, was er kann, hat er sich selbst durch Kopieren beigebracht, und er ist stolz auf seine Fähigkeit, die Dimensionen und die Proportionen jedes Objekts, das er sich vornimmt, korrekt wiederzugeben. Er vermutet, dass seine Mutter sehr talentiert war, aber aufgrund ihrer häufigen Erkrankungen war sie nicht in der Lage, mehr als hin und wieder ein Aquarell oder eine Glasmalerei zu vollenden.
Während er Mrs. Wrights Zeichnung studiert, erkennt Henry, dass mehr darin steckt als nur eine Kopie des Vogels zu wissenschaftlichen Zwecken. Sie hat weniger den Pinguin gemalt, als ihn mit dem nicht zu übersehenden Fingerspitzengefühl der Künstlerin zum Leben schraffiert. Da ist jemand am Werk gewesen, der nicht nur kopieren kann. Sie versteht es sogar, den Federn des Vogels Glanz zu verleihen und das Wasser schimmern zu lassen und ihm Tiefe und Schatten zu verleihen, wie Henry das niemals wiedergeben könnte. Doch mehr noch als durch ihr handwerkliches Können besticht die Zeichnung durch ihre bemerkenswerte Stimmung, die von ihr ausgehende Traurigkeit, die Henry ratlos zurücklässt.
»Das ist wunderbar!«, seufzt er und wünscht sich, selbst auch die Szene so verwandeln zu können, wie sie das getan hat. Aufgeregt will er wissen, ob sie Kunst studiert hat und ob sie malt, und wenn nicht, warum nicht? Er löchert sie, welche Künstler sie liebt, und verspricht, ihr einige Werke seiner Mutter zu zeigen.
Jemma möchte seine Begeisterung nicht dämpfen, will sich mit ihm aber auch nicht über Malerei unterhalten. Das gehört zu ihrem früheren Leben, es ist etwas, das Jemma Musk einmal getan hat. Nicht Mrs. Wright. Für Mrs. Wright ist Zeichnen eine technische Fähigkeit, ein nützliches Mittel, um Naturphänomene zu
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