Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
halten und der Küche fernbleiben, lässt Mrs. Croad sie in Ruhe. Nicht einmal Dr. Leask wagt es, bei seinen gelegentlichen Besuchen an Mrs. Croads Tagesablauf zu rütteln.
Jemma achtet darauf, ihre Tage so zu strukturieren, dass sie immer beschäftigt ist. Die Vormittage sind Henrys Unterricht vorbehalten, und da sie entdeckt, dass sie beide eine gemeinsame Leidenschaft für Naturgeschichte verbindet, verbringen sie die Nachmittage auf Exkursionen und suchen nach Pflanzen und Tieren, um sie zu untersuchen, zu klassifizieren und zu skizzieren. Manche Tage sind so ruhig und klar, dass sie bei ihren Streifzügen durch die Hügel der Umgebung die Boote der Robbenfänger sehen können, die an der Insel an der Mündung der Bucht vertäut liegen. Andere Tage hingegen sind so nebelig, dass sie sich nicht über den Rasen vor dem Haus hinauswagen, um nicht über den Rand der Klippe zu fallen.
Wenn es nicht nebelig ist, geht Jemma jeden Morgen vor dem Frühstück hinunter zum Strand. Egal, wie kalt es ist, sie muss schwimmen, um den Tag zu überstehen. Das ist ihre Sucht, ihr Morphium. Seit dem Vorfall im Seebad von Settlers Cove achtet sie darauf, nur zu schwimmen, wenn der Strand verlassen ist, was aufgrund der wenigen Menschen, die hier leben oder diese abgelegene Küste besuchen, keine Schwierigkeit darstellt. Funktioniert der Zauber, versetzt Schwimmen sie in einen Schwebezustand, ein erschöpftes Taubheitsgefühl, das ihren Schmerz in Schach hält.
Wenn sie Glück hat, gesellen sich ein oder zwei Robben zu ihr, die völlig angstfrei direkt auf sie zuschwimmen und dann rasch abdrehen und mit treuherzigem Blick verspielt zurückschauen, ehe sie sich ihr erneut nähern. Sie hat sie unter Wasser tanzen sehen, wo sie sich spiralförmig um sich selbst drehen und dann auf eine Welle zuschießen, an deren Flanke sie sich anmutig nach unten stürzen, um dann in letzter Minute, bevor die Welle am Ufer zerschellt, das Weite zu suchen. Bleiben sie mehrere Tage aus, macht sie sich Sorgen, sie für immer verschreckt zu haben. Manchmal hat sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und wenn sie dann über ihre Schulter schaut, sieht sie eine schnurrbärtige Schnauze und diese traurigen Augen aus dem Wasser schauen. Doch es kommt auch vor, dass das Meer und der Sand leer sind, sie sich aber dennoch beobachtet fühlt. Dann erinnert sie sich, wie sie im Wasserloch der Serafinis geschwommen war, als sie Gotardo zum ersten Mal traf und er sie fast verwundert dabei beobachtet hatte, wie sie flussaufwärts durchs Wasser glitt. Und sie muss an ihn denken und wünscht sich, ihm schreiben und ihm verständlich machen zu können, warum sie hatte gehen müssen. Und wenn sie nicht aufpasst, sieht sie dabei seinen Gesichtsausdruck in dem Moment vor sich, als ihm bewusst wurde, dass Lucy tot war, und wie er sich in seinem Gram ihr zuwendete, wohingegen sie sich abwendete. Dann muss sie weiterschwimmen bis zur Landzunge und darauf hoffen, dass alle Gedanken weggespült werden.
Jeden Morgen beobachtet Henry von seinem Schlafzimmerfenster aus, wie Mrs. Wright dem Pfad folgt, der zwischen Eukalyptusbäumen und Kasuarinen nach unten führt und an der Honeysuckle Beach endet, wo auch ein Fluss mündet. Anfangs war er davon ausgegangen, dass sie einen Morgenspaziergang machte, doch dann fiel ihm auf, dass ihr Haar bei ihrer Rückkehr feucht war und sie etwas in ein Handtuch gewickelt bei sich trug. Eines Morgens folgte er ihr in entsprechend großem Abstand, damit sie ihn nicht hören konnte. Als er den Strand erreichte, war sie bereits im Wasser und schwamm durch die sanfte Dünung, wobei ihre Arme sich als bleiche Bögen vor dem kräftigen Blau des Himmels abhoben. Wenn sie bis zur Landzunge hinausgeschwommen war, schwamm sie parallel zum Strand, drehte wieder um und kehrte ans Ufer zurück. Manchmal hat sie Seetang in den Haaren, wenn sie aus dem Wasser auftaucht. Er weiß, dass er sie nicht beobachten sollte, aber er kann nicht anders. Seit Mr. Wright und sie eingetroffen sind, hat ihn eine Erregung gepackt, die ihn kaum schlafen lässt.
Seine größte Angst ist die, dass sein Husten ihn verraten oder sie seine bläulich verfärbten Lippen bemerken könnte. Jedes Mal, wenn sein Vater auf Besuch kommt, nimmt er eine Untersuchung von Henrys Brust vor, tippt mit seinen Fingern darauf und lässt ihn tief Atem holen. Dabei beobachtet Henry das Gesicht seines Vaters. Macht er beim Einatmen ein rasselndes Geräusch, zieht sein Vater die Stirn in Falten und
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