Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
dokumentieren. Sie weiß, dass die Kunst ihr einst alles bedeutet hat, ihrem Leben Sinn gab und sie sich durch die Kunst mit etwas verbunden fühlte, was größer war als sie selbst. Jetzt jedoch ist es ihr unverständlich, warum sie ihr so viel bedeutet hat. Die Verbindung ist abgebrochen, und sie weiß nicht, ob sie sich jemals wieder erneuern wird. Sie weiß, dass Jemma Musk einmal an eine höhere Berufung glaubte und nie daran gezweifelt hat, berufen zu sein. Aber das ergibt jetzt keinen Sinn mehr, und sie weiß nicht, wozu es gut sein sollte, sich mit ihrer früheren Existenz zu befassen. Wenn sie ehrlich ist, sieht sie so gut wie gar keinen Sinn mehr. Sie klappt ihren Skizzenblock zu und packt ihre Sachen zusammen.
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagt sie leise. Sie hat diese Skizze wie nebenbei hingekritzelt und war in Gedanken ganz woanders. Über das Ergebnis ist sie genauso überrascht wie Henry.
Henry verweilt zaudernd am Fluss, weil er den Pinguin nicht den Krähen und den Möwen oder sonst irgendwelchen Tieren überlassen möchte, die ihm sicher die Augen aushacken und seinen plumpen kleinen Leib verstümmeln würden. Warum ihn nicht begraben, schlägt er vor, und mit einem kleinen Holzkreuz die Stelle markieren?
Und so stehen sie schon bald vor dem winzigen Grab nicht weit entfernt vom Fluss, und Henry rezitiert Zeilen aus dem Prediger Salomo. Alle Flüsse gehen in das Meer, und das Meer wird nicht voll; an den Ort, wohin die Flüsse gehen, dorthin gehen sie immer wieder. Alle Dinge mühen sich ab: Niemand vermag es auszusprechen …
Jemmas Augen fallen auf das Grab. Sie hätte das nicht zulassen dürfen. Ihr Blut wallt auf wie das Meer, und sie muss an die beiden Herzen denken, die in ihr rasten, als sie im Keller in der Falle saß, und wie sie sich im Dunkeln niedergelegt hat, als wäre es ihr Grab. Und wieder sitzt sie in der Falle, wird an diesem fernen Strand hinterrücks von Gedanken an jene andere Beerdigung überfallen und an jenes Grab, das sie nie gesehen hat.
»Das reicht!«
Der Junge bricht mitten im Satz ab und unterdrückt ein Hüsteln.
Wortlos entfernen sie sich von dem Hügel im Sand und erklimmen den Hang hoch zum Haus.
38
In ganz Wombat Hill tauchen an den Torpfosten Briefkästen und messinggerahmte Schlitze in den Eingangstoren auf. Gotardo hat von der aufgeregt diskutierten Postzustellung gehört, kann dem jedoch nichts abgewinnen. Denn dieses Geschwätz erinnert ihn nur allzu schmerzhaft an den einen Brief, nach dem er sich sehnt, der ihn aber nie erreichen wird.
Jeden Tag, wenn Gotardo Voletta am Postamt seine Post abholt, weigert sich Mr. Hazzard, der Postmeister, ihm in die Augen zu schauen, denn schließlich weiß er am besten, was mit Mr. Volettas Post geschieht, bevor sie durch seine Hände geht. Hätte Mr. Hazzard die Wahl, wäre er lieber nicht Teil einer derartigen Einmischung. Senior Sergeant O’Brien hat ihn gewarnt, sollte er davon erfahren, dass auch nur ein einziger Brief ohne seine Zustimmung an Mr. Voletta weitergeleitet wird, müsse er mit schwerwiegenden Folgen rechnen. Und der Senior Sergeant ist kein Mann, den man gegen sich aufbringen möchte. Mr. Hazzard kann die übereifrige Bewachung von Mr. Voletta nicht gutheißen, doch O’Briens Einfluss in der Stadt ist so groß, dass man sehr vorsichtig abwägen muss, wem man sich anvertraut. Er hat die Leute reden hören, der Senior Sergeant habe private Gründe, Mrs. Voletta verhaftet zu sehen, Gründe, die mit dem Tod ihres Kindes nichts zu tun haben.
Gotardo wird das Gefühl, dass hier Regeln verletzt werden, nie los. Jedes Mal, wenn er einen Brief umdreht, um den Umschlag zu öffnen, entdeckt er die verräterischen Anzeichen. Das gerunzelte Papier, gelegentlich ein schmutziger Fingerabdruck, die ungenau gefalteten Seiten darin. Selbst die Briefe aus dem Tessin werden geöffnet. Es würde ihn nicht überraschen, wenn O’Brien jemanden dafür bezahlte, sie zu übersetzen, für alle Fälle. Den einzigen Vorteil, den Gotardo in einer Zustellung seiner Post sehen kann, ist der, dass er dann nicht mehr Mr. Hazzards linkisches Bemühen ertragen muss, seinem Blick auszuweichen.
Doch viel größere Sorge als dieses Eindringen in seine Privatsphäre bereitet ihm Celestinas dickköpfige Entschlossenheit, sich O’Brien vorzuknöpfen. Nicht lange nach Jemmas Verschwinden stellte sie sich dem Polizisten auf der Straße in den Weg und sagte ihm, sie wisse, dass er Jemma bedroht habe, und werde dafür Sorge tragen,
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