Sehnsucht unter suedlicher Sonne
plötzlich jemand hinter ihr in scharfem Ton. Hester Trevelyan hatte die Bibliothek betreten.
Heute kam sie mit einem Stapel neuer Dokumente. Sie war tadellos gekleidet, wie für ein großes gesellschaftliches Ereignis. Das silbergraue Seidenkleid im Empirestil betonte ihre Brüste, außerdem hatte sie teuren Schmuck angelegt. Genevieve hatte inzwischen gelernt, dass Hester nie ohne ihre Juwelen auftauchte. Wahrscheinlich trug sie sie auch noch im Bett.
„Ich wollte ein wenig ausreiten, Miss Trevelyan“, antwortete Genevieve höflich.
„Das trifft sich schlecht.“ Hester sah sie missbilligend an. „Ich brauche Sie hier. Ich habe Ihnen wieder Material mitgebracht.“
„Das ich brennend gern sichten würde, aber ich habe fast den ganzen Tag gearbeitet. Gestern und vorgestern übrigens auch, obwohl es mein freies Wochenende war.“
Hester tippte nachdrücklich auf die Papiere, die sie im Arm hielt. „Sie werden mir dafür hoffentlich keine Überstunden berechnen, oder?“
„Überstunden?“ Genevieve machte ein unschuldiges Gesicht. „Ich arbeite ja freiwillig und kann einen erheblichen Fortschritt vermelden. Sie werden zufrieden sein.“
Hester überhörte das. „Sie sollen eine gute Reiterin sein“, sagte sie unvermittelt. „Stimmt das?“
Genevieve lächelte bescheiden. „Ich habe schon als Kind auf dem Rücken dieser Tiere gesessen. Ich liebe Pferde.“
„Ich war selbst eine passionierte Reiterin“, erklärte Hester kurz angebunden. „Man erlebt viel Kummer, wenn man alt wird. Glauben Sie niemandem, der das bestreitet. Es geht immer nur bergab.“
Genevieve verspürte plötzlich Mitleid mit ihr. „Ich bin überzeugt, dass Sie eine sehr gute Reiterin waren, Miss Trevelyan“, sagte sie tröstend. „Hatten Sie nie Angst, zu stürzen und sich die Hände zu verletzen? Man hat mir erzählt, dass Sie eine ausgezeichnete Pianistin waren.“
„So? Man hat also über mich geklatscht?“
Gleich wird sie zornig, dachte Genevieve. Offenbar fühlte sich Hester in ihrer Privatsphäre gestört. „Keineswegs, Miss Trevelyan“, antwortete sie deshalb schnell. „Bretton hat es nur kurz erwähnt, und unter den Fotos gibt es viele Aufnahmen von Ihnen am Klavier. Es sind besonders hübsche Bilder.“
Das war nicht übertrieben. In ihrer Jugend war Hester schön gewesen – auf eine herbe Art. Sie wirkte auf den Fotos beinahe androgyn, wie Genevieve erst jetzt klar wurde. In fescher Reitkleidung hätte sie genauso gut ein attraktiver junger Mann sein können.
„Ich habe mein Talent vergeudet“, sagte Hester sanfter als sonst.
Unwillkürlich traten Genevieve Tränen in die Augen. „Das tut mir ehrlich leid“, sagte sie, wagte aber nicht, das Thema weiterzuverfolgen. Eins war ihr jedoch klar: Auch Hester Trevelyan hatte auf ihre Art gelitten.
„Können Sie Klavier spielen?“, fragte Hester so scharf, als wäre Musik inzwischen eine Beleidigung für ihre Ohren.
Genevieve entschied, dass eine Ausrede sinnlos war. „Ich habe jahrelang Unterricht genommen“, antwortete sie. „Das heißt aber nicht, dass ich eine gute Pianistin bin.“
„Hoffentlich haben Sie nicht vor, unten auf dem Steinway-Flügel zu spielen“, stöhnte Hester. „Irgendein unbegabter Idiot hat gestern Abend darauf herumgeklimpert … sicher einer von Derryls albernen Freunden. Ich war zu erschöpft, um hinunterzugehen und mir den Lärm zu verbitten.“
Genevieve hatte es ebenfalls gehört. Einige Popmelodien waren zu erkennen gewesen, begleitet von lautem Gelächter. Doch bei der Größe des Hauses war es eigentlich erträglich gewesen.
„Ich würde gern wieder üben, wenn Sie es gestatten, Miss Trevelyan“, sagte sie und verschwieg, dass sie dazu bereits Brettons Erlaubnis bekommen hatte.
„Tausig?“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Nur bis zur Schmerzgrenze“, versprach Genevieve lächelnd. „Um warm zu werden.“
Sie kannte den polnischen Pianisten und Musikpädagogen Carl Tausig, der Etüden und Fingerübungen für seine Schüler geschrieben hatte und schon mit dreißig Jahren gestorben war. Jeder angehende Pianist besaß einen Band von ihm, um seine Technik zu vervollkommnen. Zweifellos hatte Hester sie auf die Probe stellen wollen.
„Er war Liszts Lieblingsschüler“, fuhr Hester überraschend wohlwollend fort. „Einige Kritiker behaupten, er sei ein größerer Virtuose gewesen als der Meister selbst. Anton Rubinstein hielt ihn für ein Klavierphänomen, da er sich angeblich niemals
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