Sehnsucht unter suedlicher Sonne
verspielte. Stellen Sie sich das vor! Ich habe alle wirklich Großen gehört, und sie machten alle Fehler … ich eingeschlossen. Dabei bin ich nie perfekt gewesen … nur gut. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Ich besitze sogar einige Plattenaufnahmen von mir.“ Das klang ebenso stolz wie wehmütig. „Alle Etüden von Chopin, seine Préludes und einige der schönsten Balladen. Außerdem Beethovens wichtigste Sonaten, Verschiedenes von Brahms und Liszt … und anderen.“ Letztere tat sie mit einer Handbewegung ab.
„Es wäre mir eine Ehre, die Aufnahmen hören zu dürfen“, sagte Genevieve betont höflich. Es war ein schlimmes Schicksal, wegen zunehmender Arthritis nicht mehr in der Lage zu sein, zu spielen.
„Ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte“, seufzte sie. „Kommen Sie näher, mein Kind. Ich möchte Sie genauer ansehen.“
Genevieves Herz setzte einen Schlag aus. Panik erfasste sie, aber sie folgte der Aufforderung.
„Sie haben Ihre Brille nicht aufgesetzt“, stellte Hester ungnädig fest.
Genevieve konnte kaum zugeben, dass Bretton sie ihr weggenommen hatte. „Ich benutze sie nicht regelmäßig“, redete sie sich heraus, froh, dass Hester ihre auch nicht trug.
„Seit wann fassen Sie Ihr Haar in einem Knoten zusammen?“, setzte die alte Dame das Verhör fort. „Die rote Farbe ist doch echt? Sie sind nicht in Wirklichkeit blond?“
„Um Himmels willen, nein!“, antwortete Genevieve lebhaft. „Und was den Knoten betrifft … Er war im Schuldienst einfach praktisch.“
Wieder eine Notlüge! Die Ausreden nahmen dramatisch zu.
Hesters Blick wurde noch drohender. „Sie sind eine verschwiegene Person, Miss Grenville.“
„Wie kommen Sie darauf, Miss Trevelyan?“ Genevieve fühlte sich immer unbehaglicher.
„Ich schließe nur von mir auf andere.“ Diesmal lächelte Hester wirklich. „Sie sind meine Ghostwriterin, also so etwas wie eine unsichtbare Person, die für mich schreibt. Seltsamerweise erinnern Sie mich an eine andere Erscheinung … eine junge Frau, die ich in meiner Jugend kannte.“
Es klang, als würde Hester von schmerzlichen Erinnerungen überwältigt. Auf ihrem harten, hochmütigen Gesicht erschien ein milder Ausdruck, und Genevieve schämte sich plötzlich, dass sie nur Schlechtes über ihre Arbeitgeberin gedacht hatte.
Eine ganze Weile wusste sie nicht, was sie sagen sollte. „Sie hatten diese Frau gern?“, fragte sie schließlich, als Hester weiter schwieg.
„Ich liebte sie.“ Das Bekenntnis klang gequält. „Liebte sie …“ Hester war kaum noch zu verstehen, als horchte sie tief in sich hinein.
Genevieve hatte mit jeder möglichen Entdeckung gerechnet, nicht jedoch mit dieser. Sie sah, dass Hester sich mit einer Hand an den Hals griff, und hörte sie flüstern: „Sie ist tot … lange tot.“
Genevieve war erschüttert. Was wollte Hester ihr sagen? Lag eine Last auf ihrem Gewissen, die sie mit zunehmendem Alter nicht mehr tragen konnte? Dass sie von Catherine sprach, stand für Genevieve fest. Sie wusste es einfach.
„Aber sie lebt noch in Ihrer Erinnerung?“, fragte sie behutsam, ohne ernsthaft mit einer Antwort zu rechnen.
Sie bekam auch keine. Hesters rührselige Stimmung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Sie warf das mitgebrachte Material so heftig auf den Tisch, dass mehrere Blätter durch die Luft segelten, und herrschte Genevieve an: „Sie wollten ja ausreiten. Dies hier kann bis morgen warten.“
Dann drehte sie sich um und trippelte in ihren bestickten Pantöffelchen zur Tür. Dabei zitierte sie laut Macbeth: „‚Ein Morgen, und ein Morgen, und ein Morgen kriecht so mit Schneckenschritt von Tag zu Tag bis zu dem letzten Rest gebuchter Zeit.‘“
An der Tür blieb sie noch einmal stehen und setzte hinzu: „Sagen wir lieber bis zum Jüngsten Tag! Das Sterben dauert manchmal grausam lange.“ Ihr Ton verriet, dass sie aus eigener schmerzlicher Erfahrung sprach. „Andere gehen einfach … nur so. Wie heißt es doch, Miss Grenville? Nur die Guten sterben jung.“
Es war zwecklos. Die Nacht schlich nur so dahin. Genevieve drehte sich hin und her, schüttelte die Kissen auf und drückte ihren schmerzenden Kopf in die weichen Federn.
Umsonst. Sie konnte einfach nicht schlafen. Ihre Gedanken jagten einander. Genauso erging es ihr, wenn sie schrieb. Doch diesmal beschäftigte sie kein neuer Stoff, sondern Hesters unerhörtes Bekenntnis. Es drehte sich in ihrem Kopf wie eine CD, die sie nicht ausschalten konnte.
Es war
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