Sehnsucht unter suedlicher Sonne
Fluch so schwer auf den Betroffenen lastete, dass sie zum Selbstmord getrieben wurden? Das wäre eine halbwegs logische Erklärung.“
„Da haben Sie es!“, rief Hester. „Wie auch immer … es ist schon eine Weile her.“
„Gibt es wirklich so etwas wie Vergangenheit?“, fragte Genevieve nachdenklich. „Existieren wir nicht alle in einem größeren Zusammenhang?“
Hester sah sie lange starr an. „Sie sind eine ungewöhnliche junge Frau“, sagte sie dann und schlug mit der Hand hart auf den Tisch. „Andere Frauen Ihres Alters äußern sich nicht so. Schön, wenn sie in meine Jahre kommen … aber bis dahin …“
„Das liegt an meiner Art zu denken. Ich habe unter anderem auch Philosophie studiert.“
„Ah, die größten Geister aller Zeiten! Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich schon seit Ewigkeiten mit allen möglichen Lebensfragen beschäftige und nur wenig dazugelernt habe. Meiner Meinung nach sind auch die Größten und Klügsten nicht viel weiter gekommen. Und damit genug davon. Ich habe noch einige alte Fotos entdeckt, die wir vielleicht verwenden können.“
„Darf ich sie sehen?“, fragte Genevieve neugierig. Sie warf einen Blick auf die Bilder und stellte dann fest: „Sie waren ungewöhnlich schön, Miss Trevelyan.“
Hester ließ sich durch das ehrlich gemeinte Kompliment nicht beeindrucken. „Ich war aber kein guter Mensch, Miss Grenville“, erklärte sie mit deutlicher Selbstironie, „und die vielen Jahre haben nichts daran geändert. Ich weiß, wie die Leute in meinen Umfeld über mich denken. Sie möchten, dass ich endlich sterbe … Bretton ausgenommen. Er kennt mich besser als jeder andere. Männer wie er sind selten.“
Dem stimmte Genevieve von Herzen zu.
Sie betrachtete die Aufnahmen jetzt genauer und hoffte inständig, es möchte wenigstens ein Bild von Catherine dabei sein.
Als sie auf ein Gruppenfoto stieß, das vier Frauen zeigte, stockte ihr der Atem. Drei von ihnen lächelten in die Kamera, die Vierte hatte sich halb abgewandt und blickte in die Ferne.
Hester sah Genevieve durchdringend an. „Was ist los mit Ihnen?“, fragte sie. „Warum sind Sie plötzlich so blass geworden?“
Genevieve suchte mühsam nach Worten. „Die Hitze … Ich kann mich nur schwer daran gewöhnen.“
„Vor einer halben Minute wirkten Sie noch frisch wie eine Rose“, erwiderte Hester misstrauisch. „Haben Sie etwas Besonderes entdeckt?“
„D… das eine Gesicht“, begann Genevieve stockend. „Ich finde es wunderschön. Wer ist das?“ Sie hielt Hester das alte Schwarz-Weiß-Foto hin.
Einen Moment lang erstarrte Hester zur Salzsäule, dann riss sie Genevieve die Aufnahme aus der Hand. „Das gehört nicht hierher!“
„Wer ist die bezaubernde Blondine neben Ihnen? Sie haben ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und sehen sehr glücklich aus.“
Genevieve war sich ziemlich sicher, dass es Catherine Lytton war! Sie stand zwischen Hester und einer kleinen dunkelhaarigen Frau – wahrscheinlich Patricia. Die vierte, halb abgewandte Frau rechts von Hester wirkte etwas unheimlich, wie nicht ganz dazugehörig.
Auf Hesters Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. „Sie haben recht“, sagte sie. „Es ist wirklich sehr heiß. Ich muss mich zurückziehen. Machen Sie ohne mich weiter.“
„Darf ich um das Foto bitten?“, wagte Genevieve zu fragen.
„Nein!“, erwiderte Hester scharf. „ Keiner soll sie sehen.“
Aber ich habe sie gesehen.
Die hübsche Blondine hatte unbefangen in die Kamera gelächelt. Ihr schönes Haar war mit einem Seidenschal zurückgebunden, der ihr bis auf die Schulter fiel, wo auch Hesters Hand lag. Du gehörst mir, schien die Geste auszudrücken.
Genevieve zweifelte nicht länger. Catherine war die Frau, die Hester geliebt und dann aus irgendeinem Grund tödlich gehasst hatte. Warum? Hatten sich Schwester und Bruder gleichzeitig in die schöne Frau verliebt? Das wäre nicht ungewöhnlich gewesen. Und wie passte Patricia in dieses Bild? Falls es sich um eine Dreiecksgeschichte handelte, ergab sich eine ganz neue Konstellation, mit der Genevieve bisher nicht gerechnet hatte.
Liebe und Hass – zwei Seiten derselben Medaille. Ihre ursprünglichen Theorien hielten den neuen Erkenntnissen nicht mehr stand.
Einige Tage später kam Nori in heller Aufregung in die Bibliothek.
„Was ist los?“, fragte Hester, die neben Genevieve am Tisch saß.
„Ich dachte, dass Sie es sicher gern erfahren würden, Miss Trevelyan“, antwortete Nori.
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