Sehnsucht
ihnen dies gelingt, desto besser ist ihr Lebensgefühl, denn sie beweisen täglich, dass sie das Leben besser meistern als ihre Eltern. Dann kontrollieren sie all ihre Lebensbedingungen, ihre Partner und ihre Kinder, sie wollen das Leben in seiner ganzen Breite immer im Griff haben. Für die Kinder dieser Kinder besteht das Leben aus einer umfassenden Kontrolle und sie entwickeln die tiefe Sehnsucht, sich dieser Kontrolle entziehen und vollkommen selbständig und selbstbestimmt leben zu können. Vielleicht nehmen diese Kinder sich dann vor, später als Erwachsene diesen Fehler nicht auch zu begehen und ihre Kinder nicht dauernd zu kontrollieren, sondern ihnen die Freiheiten zu lassen, die sie selbst vermisst haben. So wird der kulturelle Fortschritt von einer Generation zur nächsten etwas sehr Relatives, deshalb sollte man vielleicht besser von versuchten Korrekturen sprechen.
Einer der bedeutsamsten Familienromane der vergangenen Jahrzehnte beschreibt den Versuch einer neuen modernen Generation, die Lebensentwürfe und die darin enthaltenen Probleme, Ungereimtheiten und Doppelbödigkeiten der Eltern in ihrem Leben zu korrigieren. 58 Solche Korrekturen leiden meist an einem zentralen Problem: Das Gegenteil von falsch ist nicht immer richtig, das Gegenteil von sexuell verklemmt ist nicht sexuell ausschweifend, das Gegenteil von zwanghaft ist nicht hemmungslos und das Gegenteil von kleinstädtisch angepasst ist nicht groÃstädtisch rebellisch. Wenn Kinder einen bloÃen Gegenentwurf zum elterlichen Leben entwickeln, dann beweist dies nicht ihre Unabhängigkeit, sondern im Gegenteil ihre weiterhin bestehende Bindung an die Eltern, von denen sie sich noch nicht gelöst haben. Die Selbständigkeit, Unabhängigkeit oder Autonomie der Kinder bleibt so lange eine reine Sehnsucht, wie sie sich nicht innerlich von den Eltern gelöst haben. Und woran erkannt man eine solche gelungene Ablösung der Kinder? Indem sie manche Dinge genauso machen wie ihre Eltern, einfach weil sie es gut finden, manche Dinge aber ganz anders, weil es besser zu ihrem Leben passt und wiederum andere Dinge vollkommen neu, ohne dass es ihnen oder den Eltern auffällt. Aber Ablösung und Unabhängigkeit sind keine EinbahnstraÃe, die nur die Kinder betrifft, auch die Eltern müssen sich von ihnen lösen. Und das fällt immer dann besonders schwer, wenn mal wieder Weihnachten vor der Tür steht. Denn Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Familie. Dabei wird stillschweigend davon ausgegangen, dass Liebe und Familie auf natürliche Weise zusammengehören, dass sich in der Familie immer alle lieben und daher nichts schöner sein kann als ein Weihnachtsfest im Kreis der lieben Familie. Hier spricht die Sehnsucht absichtsvoll in Verkennung der familiären Realitäten; wie so oft lügt die Sehnsucht. Aber jeder verzeiht ihr dies, denn ihr werden immer nur gute Absichten unterstellt.
Enids gröÃter Wunsch ist es, noch einmal ein Weihnachtsfest in ihrem Hause im Kreis ihrer Kinder und Enkelkinder feiern zu können. Und sie setzt dazu alle manipulativen Hebel in Bewegung, zu denen eine sorgende Mutter in der Lage ist. Sie macht ein schlechtes Gewissen, setzt sanft unter Druck, maskiert ihre eigenen Interessen mit mütterlicher Sorge und beherrscht die familiäre Intrige nahezu perfekt. Sie hat sich dieses harmonischeWeihnachtsfest nun mal in den Kopf gesetzt und versucht über ihr Enkelkind Jonah auch die gesamte Familie ihres ältesten Sohnes zum gemeinsamen Weihnachtsfest zu bewegen. Ihre Schwiegertochter hat jedoch ihrem Mann nach einem katastrophalen Weihnachtsfest vor acht Jahren das heilige Versprechen abgenommen, nie wieder bei seinen Eltern Weihnachten feiern zu müssen, daher mussten die GroÃeltern seitdem zu ihnen reisen, wenn sie gemeinsam feiern wollten. Dieses Jahr will Enid noch einmal in ihrem Haus Weihnachten feiern, weil sie fürchtet, es könne das letzte Mal sein. Denn ihr Mann Alfred verfällt immer mehr in einen Geisteszustand, der eine Mischung aus Demenz und seinen unangenehmen persönlichen Seiten darstellt.
Enid und Alfred sind seit Jahrzehnten ein Paar, genau seit 48 Jahren. Alfred ist ein Mensch, der immer alles unter Kontrolle haben will, vor allem sich selbst, sein Leben, seine Familie und seine Triebe. Sein Leitmotiv lautet: Die Zivilisation steht und fällt mit der Beherrschung der Triebe . Diese Ãberzeugung hat ihn sein
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