Sehnsucht

Rücksicht. Aber der Ehemann seiner Geliebten macht ihm das lukrative Angebot, bei einem Internetunternehmen in Litauen mitzuarbeiten. Er nimmt das Angebot an. Aufgrund eines Regierungssturzes kommt er an Heilig Abend nicht aus Litauen raus, sitzt dort auf dem Flughafen fest und trifft erst wenige Stunden vor der Abreise seines Bruders Gary zur Weihnachtsfeier im Elternhaus ein. Anfang des Jahres wird Alfred mit einer starken Verschlechterung seines dementen Zustandes in ein Heim eingeliefert, in dem er gepflegt werden muss. Chip kümmert sich sechs Wochen lang liebevoll um seinen Vater und besucht ihn täglich im Heim. Fast nebenbei verliebt er sich in die jüdische Chefärztin und zieht mit ihr nach Chicago. Blieb er nun sechs Wochen, um seinen Vater zu pflegen oder weil er sich in Caroline verliebt hatte? Sie heiraten, als sie im siebten Monat mit Zwillingen schwanger ist. Wie gut, denkt Enid, dass Alfred diese Hochzeit nicht mehr bewusst erlebenmusste, er hätte dies alles nicht mehr verstanden und rechtens empfunden.
    Was bleibt von der weihnachtlichen Harmonie und Liebe in dieser Familie? Ängste, Enttäuschungen, dosierte Unehrlichkeit, unterschwellige Konflikte, unausgesprochene Ansprüche, sanfte Manipulationen, trotzige Verweigerungen, sexuelle Eskapaden, menschliche Haltlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Wirtschaftskriminalität, Medikamenten- und Drogenkonsum, falsche Erwartungen – also alles in allem eine ganz normale Familie. Das letzte gemeinsame Weihnachtsfest sollte der Sehnsucht noch einmal richtigen Auftrieb geben, den trügerischen Schein einer heilen Familie ein letztes Mal erleuchten, die Vergangenheit vergessen lassen, die Gegenwart aufwerten und eine Illusion von Zukunft erschaffen. Am Ende versteht Enid gar nicht, warum Garys Materialismus, Chips Versagen und Denise’ Kinderlosigkeit, die sie über die Jahre ungezählte nächtliche Stunden des Grübelns und Richtens gekostet hatten, ihr so viel weniger zu schaffen machten, seit Alfred aus dem Haus war . Erst am Ausbleiben dieser jahrelangen nächtlichen Sorgen merkt sie, dass sie sich nun wirklich von ihren Kindern losgelöst hatte. Und ihre Sehnsucht nach Familienharmonie am Weihnachtsfest gehört der Vergangenheit an. So kann sie endlich loslassen, was sie viel zu lange festgehalten hatte. Manchmal ist eben das Alter die letzte Chance, sich von ungestillten Sehnsüchten zu trennen. Oder man hat Freunde, wahre Freunde, die auch dann noch für späte Freuden sorgen!
    Die Sehnsucht des Mannes und die Freundschaft
    Die eigenen Sehnsüchte können ihren Ursprung in den unerfüllten Sehnsüchten anderer Menschen haben. Dies gilt besonders für partnerschaftliche und familiäre Beziehungen, Liebesbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen. Aber sie können auch von anderen beantwortet werden, ohne dass man darüber gemeinsam gesprochen hat oder sie einem selbst überhaupt bewusst waren. Dann versetzen sich die anderen sorgenden Menschen aus der Familie oder gar der gesamten Gemeinde in die Gefühlslage des einzelnen Menschen und arrangieren eine Lösung für ein Problem, das der Betroffene vielleicht noch nicht einmal als solches erkannt hat. So etwas nennt man dann empathische Fürsorge oder einfach nur Freundschaft.
    Alle aus dem Dorf trauerten mit, als seine Frau nach langer Krebserkrankung starb. Sie hatte in den letzten Monaten ihres Lebens sehr gelitten und nur noch im Bett gelegen. Sie war zu schwach gewesen, um noch aufstehen zu können. Der Mann und die große Tochter hatten sie gepflegt, so gut sie konnten. Am Morgen standen alle in der Familie schon früh auf und die drei Kinder machten sich für die Schule fertig. Den Vormittag war die Frau allein und schlief, für den Notfall standen die Nachbarin und ein Pflegedienst bereit, mittags kamen die Kinder aus der Schule und kümmerten sich um die Mutter, machten ihr etwas zu Essen und gaben ihr in kleinen Schlucken zu trinken. Sie aß nur noch wie ein Spatz, war sehr schwach und konnte kaum noch sprechen. Als sie endlich sterben konnte, waren alle froh und erleichtert, aber sie konnten es nicht offen zeigen. Für die Kinder und den Mann war der Tod doch anders, als sie vorher immer geglaubt hatten. Die täglichen trauernden Gedanken rund um das schier endlose Leiden und Sterben waren letztlich doch nur eine schlechte Vorbereitung gewesen, der Tod traf alle mit voller Wucht. Sie war tot,