Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
Vom Netzwerk:
plausibel, dass die Zeit für hysterische, paranoide, schizophrene oder manische Menschen schneller läuft als für depressive, ängstliche oder melancholische. Erstaunlich ist dagegen die scheinbar empirisch erwiesene Tatsache, dass übergewichtige Menschen die Zeit besser einschätzen können als normalgewichtige und extravertierte besser als introvertierte. Ebenso unverständlich erscheint es, dass die Zeit für ältere Menschen schneller vergeht als für jüngere. Aber damit wissen wir endlich auch, warum ältere Menschen an den Kassen der Supermärkte immer so drängeln müssen, sie haben einfach subjektiv weniger Zeit. Daher sollten wir in solchen Fällen altersbedingter Hektik mit jugendlicher Gelassenheit begegnen.
    Nach neuesten Erkenntnissen sind es fünf Faktoren, die eine subjektive Wahrnehmung von Zeit und Dauer beeinflussen. So vergeht die Zeit in der Regel für die meisten Menschen dann schneller, wenn sie einer angenehmen Beschäftigung nachgehen, sich dabei nicht unter Zeitdruck fühlen, beschäftigt sind, Abwechselung haben und ihre Denkstrukturen der rechten Hirnhälfte aktiviert sind. 64 Die rechte Hirnhälfte ist anscheinend zuständig für intuitives, ganzheitliches, nonverbales Denken, bei dem man leicht die Zeit vergisst, wie beim Malen, Musizieren, künstlerischen Schaffen oder Schreiben. Das vollkommene Vergessen der Zeit wird Flow genannt, weil man so vollkommen in der jeweiligen Beschäftigung aufgeht, dass man die Zeit vergisst und daher glücklich ist. Dies betrifft auch das kindliche Spiel oder Momente der Liebe. Hegel hat dieses Flowgefühl am Beispiel der Liebe bereits wunderbar in einem Satz beschrieben: Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen. 65
    Im seelischen Erleben verläuft die Zeit niemals gradlinig, sondern meist in Sprüngen, Kurven, kurzen Erregungen und langen Verläufen, mal langsamer und mal schneller. Mal leben wir mehr in der Gegenwart, mal mehr in der Zukunft und mal wieder mehr in der Vergangenheit. Wer einen geliebten Menschen verloren hat, der lebt eine ganze Weile mit seiner Trauer in der Vergangenheit. Wer heiratet, eine Familie gründen oder ein Haus bauen will, der investiert nicht nur in die Zukunft, der beschäftigt sich auch eine ganze Weile intensiv mit ihr. Und manchmal scheint die Zeit auf quälende Weise still zu stehen, weil die Gegenwart schwer erträglich geworden ist.
    Kann die Sehnsucht auch zu einer Qual werden? Ja, wenn sie immer wieder aufrechterhalten wird und weder befriedigt noch vergessen werden kann. Wenn man einen Menschen permanent mit dem Objekt seiner Sehnsucht konfrontiert, aber zugleich die Befriedigung verhindert. Schon in der griechischen Mythologie wird davon erzählt.
    Die Qual ewiger Sehnsucht
    Götter können manchmal grausam sein, wenn sie herausgefordert werden. Wer den Göttern das Essen von der Tafel stehlen, sie betrügen oder gar hintergehen will, der muss mit fürchterlichen Strafen rechnen. Dann werden alle Nachkommen über Generationen mit einem Fluch beladen und der Betrüger selbst muss grausame Qualen erleiden. König Tantalos hat die Götter auf eine solch hinterlistige Weise herausgefordert und musste danach Qualen erleiden, die seitdem als Tantalosqualen bekannt sind. So hatte Tantalos Durst, das frische Wasser umspülte seinKinn, aber sobald er trinken wollte, versickerte es im Boden. Er hatte Hunger, die frischen Früchte, wie Birnen, Feigen, Äpfel, Granaten und Oliven hingen um seinen Kopf herum, aber sobald er von ihnen essen wollte, wirbelte ein Sturm sie hinweg. In der Geschichte von Tantalos, wie der griechische Dichter Homer sie in der Odyssee beschrieben hat, bestrafen die Götter nicht nur einfach mit Hunger und Durst. Dazu hätte es gereicht, ihm nichts zu essen und zu trinken zu geben und ihn einfach sterben zu lassen. Die göttliche Strafe bestand vielmehr darin, ihm all die Objekte seiner Sehnsucht vor die Augen, die Nase und den Mund zu halten, ihn das Wasser spüren und den Duft der Früchte riechen zu lassen, damit sein Begehren beständig aufrechtzuerhalten und ihm dann die Befriedigung zu versagen. Das sind die unerträglichen Qualen des Tantalos.
    Solche Tantalosqualen gibt es aber nicht nur beim Essen und

Weitere Kostenlose Bücher