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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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namens Foxconn, die jetzt ihre Mitarbeiter schriftlich verpflichten will, auf einen Suizid zu verzichten. Allein im ersten Halbjahr des Jahres 2010 haben sich elf Mitarbeiter vom Dach des Elektronikkonzerns in den Tod gestürzt. 71 Darf ein Mensch seiner Todessehnsucht nachgeben? Und wenn er dies trotz schriftlicher und moralischer Verbote dennoch tun will, müssen oder dürfen wir ihn daran hindern? Ist die Todessehnsucht Ausdruck einer geistigen, seelischen oder moralischen Schwäche oder der letztendlichen Autonomie des einzelnen Menschen – auch gegenüber Gott?
    Ãœber kaum eine andere Frage erscheint die Philosophie zerstrittener. Platon hat den Suizid verurteilt, weil der Mensch nicht ein Leben beenden könne, das er von den Göttern bekommen habe. Aristoteles war dagegen der Meinung, der Selbstmord sei zwar ein Unrecht gegenüber der Gemeinschaft, aber nicht gegen sich selbst (Nikomachische Ethik). Der römische Philosoph Seneca dagegen bezog eine interessante, beinahe postmoderne Position: Die Frage sei nicht, ob oder wann man sterbe, sondern ob man gut oder schlecht sterbe. Die gesamte philosophische Geschichte erscheint rund um die Frage des Selbstmordes gespalten, die einen lehnen ihn prinzipiell ab, die anderen sehen ihn als eine sehr persönliche Entscheidung an. Fichte, ein Vertreter des deutschen Idealismus war gegen den Suizid, weil er darin eine Vernichtung der Zukunft sah. Kant sah ihn – wie nicht anders zu erwarten – als eine Pflichtverletzung an, als eine Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst 72 . Und natürlich waren Nietzsche und Schopenhauer ebenso vehement dafür, wie Kant dagegen war. So schreibt Nietzsche 1884 in Also sprach Zarathustra: Den freien Tod predige ich euch, der nicht heranschleicht wie Euer grinsender Tod, sondern der da kommt, weil ich es will. 73 Und Albert Camus schreibt mitten im Kriegsjahr 1942 in seinem Mythos des Sisyphos: Es gibt nur ein ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es Antwort geben 74 . Seine Antwort, stellvertretend für die existentialistischePhilosophie des 20. Jahrhunderts und im Einklang mit Jean Paul Sartre lautet: Und ich lehne den Selbstmord ab . 75
    In der Todessehnsucht erscheint der eigene Tod positiv: Das Licht am Ende des Tunnels, der Ausweg aus einer hoffnungslosen Situation, die Lösung eines Problems, das Ende des Leidens, die Wiedergutmachung für eine aufgeladene Schuld oder gar als Ehrenrettung. Schon in der Bibel werden mindestens neun Suizide geschildert 76 , die einen Einblick in die unterschiedlichen Motive des Suizids und der Todessehnsucht geben. Der berühmteste Fall ist sicher Judas Iskariot, einer der zwölf Jünger von Jesus. Er hat sich nach seinem Verrat an Jesus erhängt, und dieser Suizid wird in der christlichen Kultur nicht nur verstanden, sondern auch gut geheißen. 77 Sein Suizid war Sühne zugleich, eine letzte Entschuldigung für die Schuld, die er durch den Verrat auf sich geladen hatte. Diese Schuldgefühle spielen eine bedeutsame Rolle im Verständnis der Suizidalität und der Todessehnsucht.
    Todesphantasien
    Den besten Aufschluss über die Motive der suizidalen Menschen und die Inhalte ihrer Todessehnsüchte geben ihre Phantasien unmittelbar vor den Suizidversuchen. Der Österreicher Erwin Ringel hat bereits in den 1950er Jahren 745 Patienten nach ihren Phantasien unmittelbar vor ihrem Suizidversuch befragt und seine Ergebnisse in dem präsuizidalen Syndrom zusammengefasst. Danach lassen sich die Phantasien von Menschen unmittelbar vor ihrem Suizidversuch durch drei Charakteristika beschreiben: eine Einengung in ihren Gedanken und ihren wichtigsten Beziehungen; eine immer stärker werdende Aggression, die zugleich nach außen nicht ausgelebt werden kann; und eine Flucht in irreale Phantasien.
    In ihren Gedanken kreisen suizidale Menschen um Gefühle der persönlichen Wertlosigkeit sowie der Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit. Sie ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück, sehen für sich keine Zukunft mehr, werden zunehmend ängstlich und einsam. Die Schuld für dieses unerträgliche Leben wird bei sich selbst gesucht und die

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