Sehnsuchtsland
Lennart«, sagte er überrascht. »Weißt du nichts davon? Er hatte einen Schlaganfall!«
Er hörte ihr scharfes Luftholen. »Wie geht es ihm?«
»Wir wissen noch nichts Genaues. Am besten kommst du auf dem schnellsten Wege erst mal nach Hause.«
Er trennte die Verbindung. »Gunilla ist da«, sagte er geistesabwesend zu Linda, die mit verschränkten Armen ungeduldig an der Pforte des Krankenhauses auf ihn wartete.
In ihrer Besorgnis nahm sie es gar nicht zur Kenntnis. »Lass uns endlich reingehen!«
Auf dem Weg in die Eingangshalle überlegte Henrik vage, warum Gunilla zurückgekehrt war. Lennarts Schlaganfall konnte jedenfalls nicht der Grund sein, sie hatte ganz offensichtlich nichts davon gewusst. Ihr Aufenthalt in England musste extrem kurz gewesen sein, länger als einen oder höchstens zwei Tage konnte sie nicht dort gewesen sein. Fragte sich nur, wer oder was ihr den Start in ihr neues Leben derart vermiest hatte, dass sie so schnell wieder hier war.
Im Gang zur Intensivstation kam ihnen Greta entgegen. Linda stürzte auf sie zu. »Wie geht es ihm?«
»Ein leichter Schlaganfall«, sagte Greta knapp. »Zum Glück war ich gerade bei ihm und konnte ihn sofort versorgen.« Sie fasste nach Lindas Hand. »Es war übrigens sein zweiter.«
Henrik sah, dass Lindas ohnehin schon blasses Gesicht sämtliche Farbe verlor. Ihre Wangen waren mit einem Mal so kalkweiß wie die Wand hinter ihr. »Er hatte schon einmal einen Schlaganfall?«
Greta nickte. »Vor vier Jahren. Er wollte nicht, dass es jemand erfährt.«
Henrik erkannte, dass die Ärztin sich bewusst über das berufliche Schweigegebot hinwegsetzte, und im selben Moment glaubte er auch, den Grund zu kennen. Lennart Thorwaldsson war mehr als nur ein Patient für sie. Sie kämpfte nicht nur um seine Gesundheit, sondern auch darum, dass er in dieser Situation nicht etwas verlor, was vielleicht den Unterschied zwischen Leben und Sterben für ihn bedeutete: die Liebe und die Anteilnahme seiner Kinder.
Gleichzeitig machte sie Linda begreiflich, wie sehr ihr Vater sie ungeachtet seines schroffen, abweisenden Verhaltens brauchte — gerade jetzt. Henrik erkannte in ihren Worten die unausgesprochene Bitte, Lennart nicht aufzugeben.
»Er wird es doch überleben, oder?« Lindas Stimme klang wie die eines ängstlichen kleinen Mädchens, und Henrik verfluchte sich, weil die Situation es ihm nicht gestattete, sie hier und jetzt in die Arme zu nehmen. Bald, schwor er sich. Bald würden sie beide klare Verhältnisse schaffen, dann durfte jeder sehen, dass sie zu ihm gehörte.
»Ja, das wird er«, sagte Greta zuversichtlich. »Komm, wir gehen zu ihm.«
Henrik erschrak, als er Lennart sah, bewusstlos oder schlafend, einen Atemschlauch in der Nase und mehrere Kabel und Infusionsschläuche, die von seinem Körper zu verschiedenen Geräten führten. Weit schlimmer aber war es für ihn, wie Linda auf den Anblick reagierte. Es brachte ihn fast um den Verstand, hilflos mit ansehen zu müssen, wie sie vor dem Krankenbett ihres Vaters in haltloses Schluchzen ausbrach. Sie hob die Hand und strich Lennart vorsichtig das Haar aus der Stirn. »Papa«, weinte sie.
Henrik konnte es nicht länger ertragen. Es war ihm völlig egal, dass Greta im Hintergrund stand und zusah, und es scherte ihn auch nicht, ob Lennart vielleicht im nächsten Moment aufwachte. Er ging zu Linda und legte beide Arme um sie, nicht nur, um sie zu trösten, sondern auch, um ihr klar zu machen, dass sie nun nicht länger allein war.
*
Sie konnten nicht lange bei ihm bleiben, weil Greta darauf bestand, dass er absolute Ruhe brauche. Davon abgesehen sei er mit Medikamenten ruhig gestellt und würde in den nächsten Stunden sowieso nicht aufwachen. Greta drängte darauf, dass sie alle gemeinsam nach Hause zurückkehrten. In einer vertrauten Umgebung zu warten sei für alle Beteiligten besser und könne eher zur Entspannung der Gemüter beitragen, als hier herumzusitzen und sich verrückt zu machen.
Sie saßen zu dritt in der Bibliothek und tranken den Kaffee, den Frida in aller Eile für sie zubereitet hatte, als Gunilla hereinplatzte, ein Bild perfekter Schönheit und auffälliger Eleganz in ihrem feuerroten, figurbetonten Mantel und den hochhackigen schwarzen Stiefeln.
Ohne ein Wort zu sagen, stürmte sie auf Linda zu und nahm sie in die Arme. Überrascht fühlte Linda, wie ihre Schwester zitterte. Das Ganze musste Gunilla wesentlich stärker mitgenommen haben, als sie erwartet hatte.
Als sie Linda
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