Sehnsuchtsland
London zu leben, schon gar nicht mit einem anderen Mann. Ihre Schwester war wieder hier, und in Wahrheit dachte sie überhaupt nicht daran, wegzugehen.
*
Henrik hatte im ganzen Haus nach ihr gesucht, bevor er auf die glorreiche Idee gekommen war, in der Einfahrt nachzuschauen, ob ihr Wagen noch dort stand. Als er gesehen hatte, dass der Mercedes verschwunden war, hatte er ein paar saftige Flüche unterdrückt und versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, doch es meldete sich immer nur die Mailbox. Irgendwann im Laufe des Tages war sie ohne ein Wort verschwunden, und er wusste nicht, wohin. Der Gedanke, dass sie womöglich einfach kommentarlos nach Göteborg zurückgefahren war, versetzte ihm einen heftigen Stich.
Natürlich leuchtete ihm ein, dass die ganze Situation für sie unmöglich sein musste, aber was glaubte sie denn, wie ihm zumute war? Er konnte Gunilla schließlich nicht wie Abfall behandeln, nur weil sie beschlossen hatte, sich von ihm zu trennen! Jeder, auch Linda, musste doch erkennen, dass Gunilla mit den Nerven restlos am Ende war! Wenn sie auch sonst nichts mehr von ihm erwarten konnte — sein Mitgefühl hatte sie allemal verdient, schließlich ging es um ihren Vater, und er wusste genau, wie sehr sie an diesem alten Brummbären hing. Selbstverständlich würde er bald über seine Beziehung zu ihrer Schwester mit ihr reden müssen, das war ein Gebot des Anstands, und er wollte auf keinen Fall, dass es ihr von dritter Seite zugetragen wurde. Vermutlich wusste es sowieso schon alle Welt, zumindest Greta und Frida ahnten, was im Gange war. Bald würde es ohnehin offiziell sein, er war kein Mensch für Heimlichkeiten. Sobald sie mit diesem Nils alles geklärt hatte, stand ihnen beiden nichts mehr im Wege.
Henrik hätte das alles nur zu gern beschleunigt, doch er sagte sich, dass er ihr die Ruhe und die Zeit einräumen musste, ihre Angelegenheiten in Göteborg in Ordnung zu bringen, so wie er selbst es sich ebenfalls zugestand, erst dann mit Gunilla über die geänderten Verhältnisse zu reden, wenn ihr Schock über Lennarts Schlaganfall ein wenig abgeklungen war.
Henrik tigerte im Salon auf und ab, plötzlich bis ins Mark getroffen von der erschreckenden Vorstellung, dass Linda womöglich gar nicht vorhatte, ihre Verlobung zu lösen. Seit Gunillas Auftauchen hatte sie extrem abweisend auf ihn reagiert, und auch das Ende ihrer Unterhaltung in der Hütte heute Morgen war nicht gerade dazu angetan, seine Zuversicht zu fördern.
Er hielt es nicht mehr aus. Das Beste war, er lenkte sich mit Arbeit ab. Das hatte bisher noch jedes Mal funktioniert. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er nach oben, um seine Jacke zu holen.
Einen Augenblick blieb er in seinem und Gunillas Wohnzimmer stehen und betrachtete die Einrichtung, als sähe er sie zum ersten Mal. Die hellen Wände, der weiße, deckenhohe Email-Ofen, das elegante Mobiliar. Vorher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, warum diese Räume nie wirklich wohnlich auf ihn gewirkt hatten. Dabei war das Ambiente, was Komfort und Geschmack betraf, kaum zu überbieten. Alles war sorgsam ausgewählt und aufeinander abgestimmt, in Farbe, Form und Funktion. Dennoch erschien es ihm wenig anheimelnd, beinahe sogar ein wenig kalt.
Vielleicht lag es daran, dass Gunilla alles ausgesucht hatte. Er hatte damals genug damit zu tun gehabt, sich in seinen Job in der Werft einzuarbeiten, und sie hatte sich um die Möbel und das ganze andere Drum und Dran gekümmert.
Es war an der Zeit, alles hinter sich zu lassen. Die Aussicht auf einen Neuanfang erfüllte ihn mit einer gewissen nervösen Vorfreude, doch weit größer war im Augenblick die Anspannung wegen Lindas plötzlichem Verschwinden und seine Unsicherheit über ihre Zukunftspläne. Am besten verzog er sich so rasch wie möglich mit seinem Laptop in die Werft und sah zu, dass er mit seinem neuen Entwurf weiterkam, das würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Er klemmte sich die Jacke unter den Arm und eilte aus dem Zimmer — und lief vor der Tür beinahe in Gunilla hinein. Sie hatte sich bereits zum Schlafengehen fertig gemacht. Das Haar fiel ihr offen auf die Schultern, und sie trug ein hauchzartes Nichts von Negligé unter ihrem seidenen Morgenmantel.
»Ich kann heute Nacht nicht allein sein, Henrik.« Sie war blass, ihr Gesicht versteinert vor Verzweiflung. »Nicht im Gästezimmer.«
»Du kannst hier schlafen.« Er wies hinter sich.
»Und du?«
»Ich kann sowieso nicht schlafen. Ich fahre
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