Sehnsuchtsland
dass sie die Wohnung morgen schon beziehen könne, wenn sie es eilig habe. Sie hatte es eilig, und sie war noch nie so entschlossen gewesen, endlich Ordnung in ihrem Leben zu schaffen. Sie hatte einen guten Job, und sie war gesund. Das war schon sehr viel, mehr, als manche andere Leute hatten. Vor allem aber war es ein Anfang.
Sie fühlte sich innerlich ausgehöhlt und litt wie ein Tier, doch sie wusste bei allem Schmerz, dass es weitergehen würde. Sie hatte sich schon einmal aus so einem Tal wieder nach oben gestrampelt, und das würde sie abermals schaffen. Immerhin etwas, das sie vor vier Jahren gelernt hatte. Niederlagen waren dazu da, um sie zu überwinden und gestärkt daraus hervorzugehen.
Eins blieb noch zu tun, und sie wollte es heute erledigen, solange sie noch die Kraft dazu spürte. Sie würde dafür ein letztes Mal Nils’ Wagen brauchen, obwohl es ihr widerstrebte, noch einmal damit zu fahren. Doch in spätestens zwei Stunden wäre sie wieder da und würde dann endgültig aus seinem Leben verschwinden. Dann konnten sie beide ganz von vorn anfangen und unabhängig voneinander versuchen, emotional auf die Beine zu kommen.
Unten vor dem Haus rannte sie beinahe in jemanden hinein, und als sie sah, wer es war, blieb ihr fast vor Schreck das Herz stehen.
»Henrik«, stieß sie hervor.
»Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, du bist auf dem Weg zum Standesamt!«
Sein kläglicher Versuch, sie mit einem Scherz zu begrüßen, kam nicht gut bei ihr an. Um einen möglichst sachlichen Gesichtsausdruck bemüht, trat sie eilig einen Schritt zurück, obwohl ihr die Knie zitterten und ihr Herz einen rasenden Trommelwirbel nach dem anderen schlug. »Was willst du hier?«
»Dich am Weglaufen hindern. Oder besser: dir sagen, dass es nur eine Richtung gibt, in die du laufen darfst. In meine.«
Sie setzte sich in Bewegung und ging an ihm vorbei, hinüber zur gegenüberliegenden Seite des Platzes, wo sie den Wagen geparkt hatte. Henrik folgte ihr auf dem Fuß, doch sie hatte nicht vor, die Unterhaltung länger als nötig auszudehnen.
»Glaubst du wirklich, ich könnte mit dir glücklich sein, wenn ich immer nur daran denken könnte, dass ich meiner Schwester den Mann wegnehme und eurem Kind den Vater?«
Sie schloss den Wagen auf und warf ihre Tasche auf den Rücksitz.
»Aber du kannst auf keinen Fall Nils heiraten!«, rief er aus. »Du liebst ihn nicht!«
»Es geht nicht um Nils«, sagte sie erschöpft. »Es geht um Gunilla. Und um euer Kind. Ich werde ihr Leben nicht zerstören. Ich kann das einfach nicht!«
»Hast du nicht gesagt, dass du nie wieder weglaufen willst?«
»Da ging es nur um uns beide«, flüsterte sie. »Jetzt geht es um euer Kind.«
Sie wandte sich ihm ein letztes Mal zu. In seinem Gesicht stand dieselbe Sehnsucht, die auch sie fühlte, und in seinen Augen las sie seine Liebe und sein Verlangen. Der Schmerz, ihn so dicht neben sich zu haben und ihn nicht berühren zu dürfen, war mehr, als sie ertragen konnte. Rasch ließ sie sich auf den Fahrersitz gleiten und schlug die Tür zu. Ein paar Sekunden später drückte sie das Gaspedal durch. Bevor sie um die Ecke bog, sah sie im Rückspiegel, dass er immer noch reglos an derselben Stelle stand und ihr mit seinen Blicken folgte.
*
Ihr Vater saß auf der Terrasse in seinem Lieblingslehnstuhl, eine Decke über den Knien. Sein Kopf war leicht vornübergeneigt , sodass sie zuerst glaubte, er schliefe. Doch als sie von hinten an den Stuhl herantrat und über seine Schulter hinweg vorsichtig das alte Buch in seinen Schoß legte, packte er es mit beiden Händen und starrte es erstaunt an.
»Der Rasmussen!«, rief er begeistert. »Greta, wo hast du es gefunden?«
»In Göteborg«, versetzte Linda trocken.
Ihr Vater fuhr zu ihr herum. »Du bist das!« Er strahlte sie an, dann betrachtete er andächtig das Buch. »Woher wusstest du, dass ich danach gesucht habe?«
»Du suchst danach, seit ich denken kann. Ich habe einem Antiquar jahrelang damit in den Ohren gelegen. Und jetzt hat er das Buch plötzlich gefunden.«
Er strich vorsichtig mit den Fingern über den ledernen Einband. Als er wieder zu ihr aufblickte, waren seine Augen feucht. »Und ich dachte immer, ich sei dir gleichgültig.«
Linda versuchte, ihre Betroffenheit nicht zu zeigen. Mit abgewandtem Gesicht zog sie einen der Stühle von der benachbarten Sitzgruppe heran und setzte sich neben ihren Vater. »Es tut mir Leid, dass ich dich enttäuscht habe, Papa. Aber ich wusste einfach keinen
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