Sehnsuchtsland
zutiefst. Wenn ihm überhaupt noch irgendetwas half, dann war es das Alleinsein.
Doch Greta schien es auf ein Schwätzchen abgesehen zu haben. Sie bremste und stieg vom Rad. »Na, wie ein glücklicher werdender Vater siehst du aber nicht gerade aus!«
Na toll, dachte er griesgrämig. Sie wusste es also auch schon.
»Ich komme gerade aus dem Krankenhaus«, fügte sie erklärend hinzu. »Lennart ist völlig aus dem Häuschen wegen eures Kindes. Herzlichen Glückwunsch übrigens.«
Er nickte flüchtig. »Danke.«
Forschend schaute sie ihn an. »Dann ist also jetzt alles in Ordnung?« Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Lennart hat eine Nachfolgerin, und du wirst dein Kind bekommen. Wie du es dir immer gewünscht hast.«
Verdammt noch mal, ja!, dachte er wutentbrannt. Er hatte es sich gewünscht! Aber nicht so und vor allem nicht mehr in dieser Situation!
Greta schien es sich zum Anliegen gemacht zu haben, Salz in seine Wunden zu streuen. »Es ist doch das, was du willst, oder?«
Gereizt zuckte er die Schultern. »Ich habe mir immer ein Kind gewünscht, das ist wahr.« Entschlossen setzte er hinzu: »Und ich freue mich darauf.«
»Aber?«
»Nichts aber«, behauptete er. »Unser Kind wird in einer glücklichen Familie aufwachsen.« Er merkte selbst, wie falsch seine Worte klangen. Lügen war noch nie seine Stärke gewesen.
»Und wie soll das gehen?« Greta musterte ihn interessiert. »Wie soll aus lauter unglücklichen Leuten eine glückliche Familie werden?« Als er nichts erwiderte, fuhr sie drängend fort: »Glaubst du denn, ein Kind spürt so etwas nicht?«
»Was willst du von mir?«, fuhr er auf. »Soll ich etwa meine schwangere Frau verlassen?«
»Wenn es so das Beste ist — ja«, sagte sie ruhig.
»Woher willst du wissen, was das Beste ist?«
Er schaute sie ärgerlich an, doch sie hielt seinem Blick gelassen stand. »Auf jeden Fall weiß ich, was das Schlechteste ist: sich gegen das Herz zu entscheiden.« Sie blickte hinaus auf die gekräuselte Wasseroberfläche. »Soweit ich das sehe, seid ihr im Moment alle dabei, euch gegen euer Herz zu entscheiden. So etwas kann nicht gut gehen.«
Henrik starrte sie an, während er stumm ihren Worten nachlauschte. Plötzlich merkte er, wie etwas in ihm aufbrach und machtvoll an die Oberfläche seines Bewusstseins drängte. Und dann begriff er es plötzlich. Mit einem Mal war alles ganz klar und einfach. Der Weg, nach dem er so verzweifelt gesucht hatte, lag offen und überschaubar vor ihm.
Er legte der Ärztin seine Hand auf die Schulter. »Danke!«, sagte er leise. Dann eilte er mit großen Schritten über die Mole zu seinem Wagen.
*
Es war schon ein Fehler gewesen, überhaupt die Schachtel zu öffnen, aber eine noch viel größere Dummheit war es, das Kleid überzustreifen und sich damit vor den Spiegel zu stellen. Linda brach in Tränen aus, als sie sich sah. War es nicht das, was sie sich immer gewünscht hatte? Ein wunderschöner Traum aus Seide, Spitze und Tüll? Niedergeschmettert sank sie auf den Boden, beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Falsch!, schrie es in ihr. Es war alles so entsetzlich falsch! Nicht nur, was sie schon getan hatte, sondern vor allem, was sie noch tun wollte!
Erschrocken fuhr sie hoch, als sie hörte, wie die Wohnungstür sich öffnete. Nur ein paar Augenblicke später stand Nils mitten im Raum, kaum genug Zeit für Linda, sich hastig über die Augen zu wischen, damit er ihre Tränen nicht sah.
Natürlich merkte er trotzdem, dass sie geweint hatte, ein rascher Blick in den Spiegel überzeugte sie davon, dass ihr Gesicht immer noch — oder schon wieder — völlig verschwollen war. Statt sich eine Kompresse aufzulegen, hatte sie ja unbedingt eine Brautmodenschau machen müssen! Davon abgesehen war er wesentlich früher aus dem Büro zurück, als sie erwartet hatte.
»Linda, was ist denn?« Er kam zögernd näher, überrascht, sie in dieser Aufmachung anzutreffen, und ganz offensichtlich bestürzt wegen ihrer Tränen.
Linda zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts, ist schon gut.« Hastig fügte sie hinzu: »Es bringt Unglück, wenn der Bräutigam die Braut vor der Hochzeit sieht.«
»Nicht, wenn die Braut so süß aussieht«, widersprach Nils galant. Besorgt ging er neben ihr die Hocke. »Warum weinst du? Ist was mit deinem Vater?«
»Ach wo.« Sie ließ sich von ihm hochziehen und versuchte, die Situation mit Selbstironie zu entschärfen. »Ich war bloß gerührt, als ich mich im Spiegel gesehen habe. Linda,
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