Sehnsuchtsland
ihrem weißen Rock und der ärmellosen Bluse. Das Haar hatte sie locker hinter die Ohren gestrichen, was ihr ein rührend mädchenhaftes Aussehen verlieh.
Nein, dachte er plötzlich. Sie hat sich gar nicht richtig verändert. Kein bisschen. Sie ist immer noch mein kleines Mädchen!
Björn hatte plötzlich Angst vor dem Moment, in dem sie beschließen würde, wieder wegzugehen. Der Zeitpunkt würde kommen, so viel war gewiss. Und es würde nicht mehr lange dauern.
Er trat neben sie an den Herd und schnupperte. Frisch gepflückte Erdbeeren und Gelierzucker, jeden Sommer immer wieder eine unvergleichliche Geruchskombination, wie er fand.
»Diesen Duft habe ich schon als Kind geliebt«, bekannte er lächelnd. »Heiße Früchte und Zucker... Mhmm ...«
Lena lachte gutmütig und schöpfte mit der Kelle ein wenig von dem Obst auf ein Teilerchen.
»Hier, bitte sehr. Aber Vorsicht, es ist ziemlich heiß! Magst du ein Stück Brot dazu?«
Björn schüttelte den Kopf. Mit einem kleinen Löffel kostete er vorsichtig von der heißen Masse. Wie immer konnte er nicht entscheiden, ob es ihm heiß oder kalt besser schmeckte. In heißem Zustand war es fruchtiger und ursprünglicher. Doch natürlich würde es ihm später als Erdbeermarmelade erst recht auf der Zunge zergehen. 2
»Du kannst es so gut wie deine Mutter«, erklärte er entschieden.
Lena unterdrückte ein Grinsen. »Zu viel der Ehre. Ingrid ist dafür zuständig. Ich bin hier nur zum Umrühren abgestellt.« Sie wandte sich wieder dem Topf zu.
Björn betrachtete sie nachdenklich. »Weißt du, es ist seltsam. Da warst du zehn Jahre nicht hier, und wenn ich dich so sehe, ist es wie immer.« Er schwieg kurz, um ihr Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern. Als keine Antwort kam, suchte er ihren Blick: »Geht es dir nicht auch so?«
Sie schaute zur Seite, um ihn nicht ansehen müssen.
»Ich hätte dich einfach holen müssen«, sagte ihr Vater unbeirrt. Seine Miene war immer noch gefasst, aber Lena merkte, wie die Emotionen in ihm brodelten. »Ich hätte dich zwingen müssen, mit nach Hause zu kommen. Es wäre meine Pflicht gewesen!«
»Ich wäre nicht mitgekommen«, sagte Lena in unbeteiligtem Tonfall. Mit linkischen Bewegungen stellte sie einen Stapel Teller auf die Anrichte und nahm anschließend ein Tischtuch aus einer Schublade des Küchenschranks, das sie fahrig auf dem großen Esstisch ausbreitete. Zu ihrem Grimm stellte sie fest, dass sie sich nicht sonderlich geschickt dabei anstellte. Ungeduldig versuchte sie, die Falten in dem Tischtuch zu glätten. Es gelang ihr nicht.
Björn ließ nicht locker. »Du lebst dort draußen in deiner Welt und glaubst, wenn du nicht dran denkst, ist es auch nicht passiert. Aber du täuschst dich! Man kann etwas nicht dadurch ungeschehen machen, bloß weil man nicht dran denkt!« In seinem Gesicht spiegelten sich Ärger und Hilflosigkeit.
Lena hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. »Wenn man eine Erinnerung nicht mehr aushalten kann, schiebt man sie einfach weg, auf eine andere Ebene des Bewusstseins. Ich kann ganz gut damit leben.«
Sie log, und sie wussten es beide.
»Kannst du das?«, fragte Björn mit wachsender Wut. »Diesen Eindruck habe ich nicht. Du läufst dem Leben davon, Lena. Und das ist ganz und gar nicht gut.«
»Ach komm, Papa! Du weißt doch gar nichts von meinem Leben!«
»Und das findest du gut so?« Er blickte sie eindringlich an. »Ich bin dein Vater, Lena. Und du schließt mich seit Jahren aus deinem Leben aus!« Er schüttelte den Kopf und setzte bitter hinzu: »Mal ganz davon abgesehen, dass du von uns allen nichts mehr wissen willst.«
»Aber das stimmt doch gar nicht! Wir telefonieren doch immer mal wieder!«
Björns Blicke waren eine einzige Anklage. Lena wandte sich hastig ab und eilte durch den Durchgang vom Essraum ins Wohnzimmer, um Gläser zu holen.
Ihr Vater war mitten im Raum stehen geblieben, ein Riese von einem Mann, die Schultern so breit wie eine Tür, das Gesicht kantig und gefurcht wie ein zerklüfteter Stein. Er hatte sich ihr in den Weg gestellt, im übertragenen wie auch im wirklichen Sinne. Björn schien entschlossen, das Thema ein für alle Mal mit ihr auszudiskutieren.
Lena war gezwungen, um ihn herumzugehen, damit sie den Tisch fertig decken konnte.
»Ich sage dir jetzt was, Lena. Ich finde nicht, dass das genug ist. Für mich ist der Gedanke schrecklich, dass du weit weg von uns ein Leben führst, das dich nicht glücklich macht!«
»Das ist einfach nicht wahr!«,
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