Sehnsuchtsland
sterben würde. Plötzlich spürte Magnus den Zauber von Marielund wie einen Sog, und er wusste, dass seine Tochter Recht hatte. Er musste es versuchen, ein letztes Mal.
»Gib mir eine halbe Stunde«, sagte er zu Emma.
Sie nickte vergnügt, und er setzte sie vorsichtig wieder auf der Bank ab und stieg in den Wagen. Emma bedachte ihn mit ihrem unvergleichlichen koboldhaften Grinsen, während er den Motor anließ und mit durchdrehenden Reifen rückwärts aus der Einfahrt heraussetzte.
Sie lächelte immer noch, als er mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Marielund davonbrauste.
Alles wird gut, hatte ihre Mutter gesagt, bevor sie weggefahren war. Emma war davon überzeugt, dass sie Recht hatte. Ihre Mutter war bereits glücklich, und ihr Vater würde es noch werden. Es fehlte nur noch ein kleines bisschen. Emma wusste, dass es hier etwas gab, das ihr Vater dringend brauchte. Er musste es nur finden und festhalten.
*
Lena hatte eigentlich nicht vorgehabt, zum Herrenhaus zu gehen. Eigentlich hatte sie beim Pförtnerhäuschen anklopfen und Elinor um die längst überfällige Aussprache bitten wollen.
Doch dann hatten ihre Füße sie wie von allein zum Haupthaus hinübergetragen, die große Freitreppe zu der überdachten Veranda hinauf und von dort aus weiter in die von trübem Dämmerlicht erfüllte Halle. Auch ihre Hände schienen nicht mehr zu ihr selbst zu gehören, denn ganz ohne ihr Zutun zogen sie das große weiße Tuch von dem zerschmetterten Motorrad. Ein Lachen drang plötzlich an ihre Ohren, es kam aus einer anderen Zeit und überbrückte eine Distanz von zehn Jahren, als ob das, was damals geschehen war, gerade eben passierte, in diesem Augenblick...
Stefan kam aus dem Haus gestürmt, strahlend vor Vorfreude und gut aussehend in seiner neuen Jeansjacke, die Lena mit ihm zusammen in der Woche davor ausgesucht hatte.
»Nur einmal«, bettelte Lena. »Lass mich nur einmal fahren! Ich kann das! Los, Stefan! Sei kein Frosch!«
»Die Maschine ist viel zu schwer für dich.«
»Ich fahre genauso gut wie du!« Sie legte den Kopf schräg. »He, du liebst mich wohl nicht mehr!« Als er immer noch zweifelnd dreinschaute, schmeichelte sie: »Ich bin auch ganz vorsichtig.«
Er war nicht überzeugt, aber er ließ sie fahren. Sie brausten durch den Wald, wo sich die Abenddämmerung binnen weniger Minuten in Dunkelheit verwandelte.
» Wow !« Lenas Jubelschrei übertönte das Brummen des PS-starken Motors. »Das ist toll!«
Er schmiegte von hinten seine Wange gegen ihr Gesicht. »Ich liebe dich, weißt du das?«
»Und jetzt — Licht aus!« Kreischend vor Übermut drehte sie die Scheinwerfer aus. Das war ihre gemeinsame Mutprobe und gleichzeitig der ultimative Spaß. Sie hatten das schon vorher hin und wieder gemacht, aus Jux. Nur, dass Stefan sonst immer am Lenker gesessen hatte und sie hinter ihm. Es war wie eine Fahrt auf der Geisterbahn. Mit rasender Geschwindigkeit rauschten sie durch den dunklen Wald und lachten beide vor wilder Lebenslust.
Ihr Lachen in der Dunkelheit. Die vorbeifliegenden Bäume. Der Elch, mitten auf der Straße. Schwerelosigkeit, Sturz. Die Härte des Aufpralls. Und dann die Schreie. Schreie, die nicht aufhören wollten...
Lena lag auf dem Rücken, sie bekam keine Luft. Rechts von ihr drehte das Rad des umgestürzten Motorrads in der Luft durch, langsam und endlos. Irgendwie schaffte sie es, sich auf den Bauch zu rollen und dann auf blutigen Händen und Knien zu dem leblosen, verkrümmten Körper hinüberzukriechen. Seine Augen waren offen, es war, als wollte er sie noch einmal anschauen. Doch er konnte nichts mehr sehen. Würde nie wieder etwas sehen können. Nie wieder.
Lena brach weinend neben dem Motorrad in die Knie, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Jemand trat zu ihr, hockte sich neben sie und streichelte sanft ihren Arm. Es war Magnus.
Sie umklammerte schluchzend ihre angezogenen Knie. »Wir waren so glücklich! Er... er saß hinter mir auf dem Motorrad... Er hat gelacht... war noch so fröhlich... « Die Tränen strömten ungehindert über ihr Gesicht. »Ich war so verliebt in ihn.« Sie schluckte heftig und sah Magnus an. »Er wäre jetzt Arzt. Er wollte immer Arzt werden, schon als Kind. Und er hätte es bestimmt gut gemacht. Tante Elinor wäre so stolz auf ihn gewesen!«
Magnus konnte sie nur stumm und schockiert anblicken.
»Ich habe ihn umgebracht«, weinte sie. »Ich habe ihn geliebt, und ich habe ihn umgebracht! Ich konnte nichts machen, es ging alles so
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