Sehnsuchtsland
schnell. So wahnsinnig schnell...«
Erschüttert zog Magnus sie in seine Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust. Nichts von dem, was sie ihm eben erzählt hatte, konnte er ungeschehen machen, obwohl er es gern getan hätte — um ihretwillen, und um diese schreckliche Qual der Schuld von ihr zu nehmen. Doch er konnte nichts weiter tun, als sie zu trösten. Er konnte sie in den Armen halten, bis sie sich ihr ganzes Leid von der Seele geweint hatte.
*
Elinor hatte alle Briefe geöffnet und sie nacheinander gelesen. Mit einer achtlosen Geste wischte sie das ganze Papier vom Tisch. In jedem Brief stand mehr oder weniger dasselbe. Sie hatte Marielund verloren. Man hatte es ihr weggenommen. Es würde nicht mehr lange dauern, und ein Gerichtsvollzieher würde alle Möbel abholen und sie auf die Straße setzen. Sie würden ihr alles nehmen. Nicht nur das Dach über dem Kopf, sondern all ihre Erinnerungen. Das Motorrad würden sie natürlich auch holen. Und es vermutlich auf die Müllkippe bringen. Das Fahrrad konnten sie ruhig mitnehmen, der alte Drahtesel war sowieso schon fast hinüber. Ob sich jemand um ihre Rosen kümmern würde, wenn sie selbst nicht mehr da war?
Die Fotos würden sie ihr sicher lassen, damit konnte niemand etwas anfangen außer ihr selbst. Vor ihr auf dem Schreibtisch stand ein Bild, das sie zusammen mit Stefan zeigte. Er umarmte sie und grinste dabei frech in die Kamera. Damals hatte auch sie selbst noch jung und hübsch und glücklich ausgesehen. Nein, verbesserte Elinor sich in Gedanken, sie hatte nicht nur so ausgesehen, sie war es tatsächlich gewesen.
Das rot geblümte Seidenkleid war ein Modell von Dior. Damals war es ihr Lieblingskleid gewesen, denn immer, wenn sie es getragen hatte, war es ihr gut gegangen.
Elinor hob grübelnd den Kopf. Sie war völlig sicher, dass sie das Kleid noch irgendwo hatte. Plötzlich war sie besessen von der Idee, dass sich irgendetwas ändern würde, wenn sie es anzog. Möglicherweise wäre es wie früher, sobald sie es erst trug. Vielleicht brachte es ihr ein kleines Stück von all dem Glück zurück, das sie damals im Überfluss gehabt hatte.
Sie fand es in einer Kommode mit Kleidungsstücken, die sie alle lange nicht getragen hatte. Es passte sogar noch ganz gut, es war nur eine Spur zu weit. Im Laufe der Jahre musste sie etwas dünner geworden sein. Es fühlte sich gut an auf der Haut, glatt und kühl, ein sanfter Hauch aus der Vergangenheit. Elinor horchte in sich hinein. Doch da war kein Glück, nur stumme Traurigkeit.
Steifbeinig wie eine Marionette ging sie nach draußen, hinunter zum See. Sie umrundete das Bootshaus vorn am Steg und ging weiter, bis sie das Ende der Planken erreicht hatte. Die Wasseroberfläche lag glatt und einladend vor ihr. Es war ganz leicht, einfach die Leiter hinabzusteigen. Das Wasser fühlte sich schmeichelnd und kühl an ihren Beinen an, und als sie tiefer glitt, war sie ganz und gar umhüllt von dem angenehmen Gefühl. Es tat gut, so schwerelos dahinzutreiben. An nichts mehr zu denken, nur noch an die verheißungsvolle Dunkelheit, die sie schon fast erreicht hatte. Stefan wartete dort drüben auf sie. Sie musste nichts weiter tun als einfach vorwärts zu gehen, Schritt für Schritt hinauszuwaten in die Weite des Sees und dort hinabzusinken, wo Vergangenheit und Zukunft sich vereinten und sie für immer aufnehmen würden.
*
Als Lena mit Magnus aus der dämmerigen Halle hinaus in die strahlende Sonne trat, wusste sie, dass sie es geschafft hatte. Die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, würde sie zeitlebens begleiten, aber mit Magnus’ Unterstützung würde sie damit fertig werden. Sie musste das nicht mehr allein durchstehen. Er würde ab sofort an ihrer Seite sein und ihr helfen. Es war ein Anfang.
Auf der Veranda blieben sie beide stehen und schauten einander an. Magnus hob stumm die Hand und strich ihr ein paar verirrte Löckchen aus dem Gesicht, dann streichelte er sanft ihre Wange. Seine Augen waren voller Zuversicht. Lena spürte, wie ihr Herz ihm entgegenflog . Er war ein neuer Anker in ihrem Leben, stark und sicher. Und er würde sie halten, solange sie bei ihm war. Was sie betraf, so war sie nicht bereit, auf absehbare Zeit etwas an diesem Zustand zu ändern.
Dann sah sie drüben im See etwas merkwürdig Rotes, das auf der Wasseroberfläche dahinzutreiben schien. Als sie begriff, was es war, erstarrte sie. »Tante Elinor«, flüsterte sie entsetzt.
Magnus war ihrer Blickrichtung gefolgt und
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