Sehnsuchtsland
stieß einen Fluch aus, als er erkannte, was los war. Er war ein guter Sprinter, wie Lena gleich darauf feststellte, als sie versuchte, auf dem Weg zum Ufer mit ihm Schritt zu halten.
»Tante Elinor!« Lenas Stimme zitterte vor Angst und Verzweiflung.
Magnus sprang ohne großes Federlesens ins Wasser. Halb watend, halb kraulend bewegte er sich auf die an der Wasseroberfläche treibende Gestalt zu. Als er sie erreicht hatte, packte er sie bei den Schultern und hievte sie in Richtung Steg.
Mit vereinten Kräften stemmten er und Lena den schlaffen Körper aus dem Wasser auf die Planken des Stegs.
»Lasst mich doch in Ruhe«, murmelte Elinor mit erstickter Stimme. Wasser rann aus ihren Haaren über ihr Gesicht und tropfte von ihrem Kinn auf ihr nasses Kleid. »Es hat doch alles keinen Sinn mehr.«
»Tante Elinor, bitte.« Lena hielt Elinor in ihren Armen und presste sie an sich. Magnus hockte neben ihnen, so triefend nass wie Elinor.
»Ich hole eine Decke.« Er stemmte sich keuchend hoch und entfernte sich in Richtung Haus.
Elinor starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel hinauf. »Stefan wäre jetzt genauso alt wie du.«
Lena spürte die Anklage wie einen Hieb. »Ich habe ihn sehr geliebt. Und er war mein bester Freund.«
Elinor richtete sich mühsam auf. »Er war mein einziges Kind. Als er starb, war auch mein Leben zu Ende.«
»Ich weiß.« Lenas Stimme klang gefasst. »Tante Elinor, du wolltest dir damals meine Entschuldigung nicht anhören. Du hast mich nicht mehr sehen wollen. Ich habe das verstanden. Und ich habe auch nie erwartet, dass du mir jemals verzeihen wirst.« Sie stockte, davon überzeugt, dass sie nicht genug Kraft hatte, um all das zu sagen, was seit Jahren so dringend aus ihr herauswollte. Tränen erstickten ihre Stimme, als sie fortfuhr: »Wenigstens einmal muss ich dir sagen, wie Leid es mir tut! Dass ich es nicht wollte. Dass ich genauso um Stefan getrauert habe wie du... Dass ich immer noch um ihn trauere. Bitte Elinor. Es ist mir wichtig, dass du das weißt.« Sie hielt abermals inne und schluchzte kurz auf. »Ich habe seit Stefan niemanden mehr geliebt. Ich habe...«
»Du hast auch dein eigenes Leben zerstört«, flüsterte Elinor. Mit einem Mal war ihr Blick klar. Sie schaute Lena direkt in die Augen, als suche sie dort etwas. Sie schien es gefunden zu haben, denn plötzlich wurden ihre Züge weicher.
»Ich wollte, dass du genauso unglücklich wirst, wie ich es war. Aber jetzt, wo du hier bist, weiß ich nicht mal mehr, warum.« Sie wandte sich ab. »Es macht Stefan nicht wieder lebendig und meinen Schmerz nicht kleiner. Im Gegenteil.« Es kostete sie sichtlich Kraft, aber sie wandte sich Lena erneut zu und schaute sie ernst an. »Es war nicht allein deine Schuld, ich weiß es.«
Jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, fühlte Elinor sich mit einem Mal von tiefem Frieden erfüllt. Ja, ihr Sohn war tot. Aber es war ein Unglück gewesen, verursacht durch das leichtsinnige Verhalten zweier Kinder. Was immer Lena dazu beigetragen hatte — sie hatte mehr als genug dafür gebüßt. Das alles hatte viel zu lange gedauert.
»Ich wünschte, wir hätten schon früher geredet«, sagte Elinor leise. »Verzeih mir, Lena.«
»Tante Elinor.« Weinend schlang Lena die Arme um ihre Patentante. Erst in diesem Moment wusste sie mit letzter Sicherheit, dass sie das Recht hatte, wieder glücklich zu sein.
*
Ingrid servierte Elinor einen Teller mit dampfender Suppe. »Hier, die ist schön heiß. Das wird dir gut tun.«
Elinor zog die Decke, die Magnus ihr vorhin um die Schultern gelegt hatte, etwas fester um sich. Es war warm und windgeschützt auf der Terrasse der Lagerbergs, aber ihr Kleid war immer noch klamm und feucht. »Danke, aber ich habe keinen Hunger.«
Björn, der mit Lasse auf dem Schoß neben ihr am Tisch saß, schob ihr den Löffel hin. »Iss das jetzt.«
Als sie ihm einen erstaunten Seitenblick zuwarf, fügte er brummig hinzu: »Ich habe mich viel zu lange nicht um dich gekümmert.«
Elinor nahm den Löffel und fing langsam an zu essen. »Bis jetzt bin ich ganz gut allein zurechtgekommen.« Es klang kaum noch rebellisch, im Gegenteil. Ihre Stimme hatte einen deutlich versöhnlichen Unterton. Magnus fand, dass dies ein gutes Zeichen war. Er kam gerade mit Lena aus dem Haus, sämtliche Pläne unterm Arm und erfüllt von zuversichtlichem Eifer.
»Wir müssen mit dir reden, Tante Elinor.« Lena lächelte nicht nur, sie strahlte förmlich. Alles an ihr schien zu leuchten.
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