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Sehnsuchtsland

Sehnsuchtsland

Titel: Sehnsuchtsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inga Lindström
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oben. Eiliger als nötig riss er die Tür zum Kinderzimmer auf.
    »Pelle, aufstehen, du Schlafmütze, Mats wartet!«
    Überrascht sah er, dass Pelles Bett leer war. Auch im Bad war er nicht, ebenso wenig in irgendeinem der anderen Räume.
    Niclas wusste sofort, dass neuer Ärger ins Haus stand.

    *

    Hanna fand nach einigem Herumkramen in der alten Kommode zwischen ausrangierten Kinderspielsachen und alten Pullovern eine kleine Kiste mit Papier und Stiften, die entweder Niclas oder seine verstorbene Frau vermutlich für Pelle zum Malen hier deponiert hatten.
    Hanna hatte die vage Vorstellung, ihm in einem Brief alles ausführlich zu erklären, ihm zu schildern, warum sie so und nicht anders handeln musste, doch als sie dann auf das leere Blatt starrte, wollte ihr nichts einfallen. Schließlich schrieb sie einen einzigen Satz und legte den Zettel dann auf einen Korb neben der Tür, wo Niclas ihn sofort finden würde.
    Draußen war es frisch, aber es war bereits zu spüren, dass es im Laufe des Tages wieder warm werden würde. Außerdem ging ein leichter Wind, sie hatten gutes Segelwetter.
    Auf dem Weg zur Straße drehte Hanna sich noch einmal und betrachtete das Wohnhaus, das in der Morgensonne rot leuchtete. Ob er schon mit seinem Sohn beim Frühstück saß? Oder die Kisten für Stockholm packte? Was immer er tat, es war sein Weg, dem er folgte. Sie selbst würde den ihren gehen müssen, auch wenn sie jetzt noch nicht wusste, wohin er sie führte. Die Zukunft, die vor ihr lag, schien von einer Mauer verborgen, und Hanna hatte keine Ahnung, wie es dahinter aussah. Das Glück hatte ihr zugewinkt, aber nur für einen atemlosen, herrlichen Moment lang. Doch so kurz er gewesen war — in diesem einen Augenblick war alles wahr und richtig gewesen.
    Eilig setzte sie ihren Weg zur Straße fort. Zu ihrem Erstaunen sah sie dort Pelle stehen, einen Rucksack auf dem Rücken, mit dem Daumen einem vorbeifahrenden Auto winkend.
    Der Wagen, ein großer Chrysler, fuhr ohne zu bremsen weiter. Hanna ließ erleichtert den angehaltenen Atem entweichen und beeilte sich, Pelle zu erreichen, bevor womöglich der nächste Fahrer anhielt und ihn mitnahm.
    »Hey, Pelle!«
    Pelle wandte sich mit frustrierter Miene zu ihr um. »Das ist jetzt schon der Vierte, der vorbeifährt!«
    »Aha«, sagte sie vorsichtig. »Was hast du denn vor?«
    »Ich will abhauen.« Seine Antwort klang so, als wäre dieses Unterfangen das Natürlichste von der Welt.
    »Und wo soll’s hingehen?«
    Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht.«
    »Willst du das deinem Papa wirklich antun? Er hat doch nur dich!«
    Pelles Gesicht verfinsterte sich. »Ich bin ihm egal.«
    »Das glaube ich nicht«, widersprach Hanna vehement. Sanfter fügte sie hinzu: »Ich kann mir vorstellen, dass du ziemlich viel Angst vor Stockholm hast. Aber weißt du, es kann auch ganz toll sein. Neue Freunde kennen zu lernen. Die neue Wohnung. Bestimmt bekommst du ein super Zimmer.«
    »Ich wünschte, Mama wäre noch da.« Er ließ den Kopf hängen, und die mageren Schultern sanken nach vorn, als hätte er die Last der ganzen Welt zu tragen. »Sie hätte nicht erlaubt, dass Papa die Praxis aufgibt und diese blöde Arbeit in Stockholm annimmt.«
    Er ging an ihr vorbei und setzte sich vor einen Baum, der am Straßenrand stand. Es war eine gewaltige Eiche, deren Stamm einen Durchmesser von mindestens zweieinhalb Metern hatte. Die Krone fehlte aus unerfindlichen Gründen, vielleicht, weil der Baum irgendwann vom Blitz getroffen worden war. Er endete in etwa sieben Metern Höhe, überwachsen von frischen, himmelwärts strebenden Trieben. Der Anblick war für Hanna wie ein Sinnbild, dass die Natur auch in ausweglosen Situationen einen Weg in die Zukunft fand. Nur die Menschen schienen dazu oft nicht in der Lage zu sein.
    Sie ließ sich neben Pelle auf den Baumwurzeln nieder, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.
    »Dein Papa will bestimmt nur das Beste für dich.«
    Pelle schaute sie nicht an. Wortlos starrte er auf den Asphalt, die Hände über seinen knochigen Knien verschränkt.
    Hanna rückte näher an ihn heran. »Auf jeden Fall solltest du nicht weglaufen, sondern mit ihm reden. Du musst ihm sagen, was dich bedrückt. Ich bin sicher, er wird dir zuhören, und ihr werdet auch gemeinsam eine Lösung finden.«
    »Das Beste für meinen Papa wäre, wenn er wieder als Arzt arbeiten würde.« Mit einem Anflug von Stolz fügte er hinzu: »Er ist nämlich ein guter Arzt. Das sagen alle.«
    Hanna wusste, dass es sich

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