Sehnsuchtsland
nicht gehörte, ein Kind über Erwachsene auszuhorchen, doch ihr Verlangen, mehr über Niclas’ Motive zu erfahren, war mit einem Mal übermächtig.
»Weißt du, warum er die Praxis aufgegeben hat?«
Pelle schaute zur Seite. »Er denkt, ich weiß es nicht. Aber er hatte oft Albträume, und da hat er geschrien...« Er stockte und holte zitternd Luft. »Mein Papa denkt, dass er meine Mama umgebracht hat.«
Hanna fuhr zusammen. Fassungslos blickte sie auf den gesenkten Haarschopf.
»Deshalb will er nie wieder als Arzt arbeiten«, schloss Pelle.
Hanna rang nach Worten, in dem verzweifelten Wunsch, dem Knirps etwas von seiner Bedrücktheit und seiner Angst vor der Zukunft zu nehmen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie ihn mit dem, was sie sagte, überhaupt erreichen konnte, doch versuchen musste sie es.
»Dann musst du ihm helfen, dass er darüber hinwegkommt«, sagte sie eindringlich. »Und das kannst du nur, indem du bei ihm bleibst!«
Pelle schaute sie an. Seine Augen waren genauso braun wie die seines Vaters, nur dass bei ihm nicht goldene, sondern grüne Flecken die Iris sprenkelten. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, und Hanna konnte sehen, dass in seinem Unterkiefer ein neuer Backenzahn wuchs. Plötzlich war sie von dem schmerzlichen Bedürfnis erfüllt, ihn in die Arme zu nehmen. Sie streckte bereits die Hände aus, als er sich aufrappelte, sich ein paar Schritte von ihr entfernte und dann nach einem letzten Blick über die Schulter mit staksigen Schritten in Richtung Haus zurückrannte . Hanna verfolgte das Getrappel seiner Turnschuhe auf dem Asphalt und schaute ihm nach, bis er zwischen den Birken verschwunden war.
Eines der Mädchen war damit beschäftigt, draußen die Tische fürs Frühstück zu decken, als Hanna über den Garten zum Hotel zurückkehrte. Beim Betreten des Zimmers wagte sie kaum zu atmen. Schuldgefühle durchfluteten sie, während sie auf Zehenspitzen durch den Raum schlich. Sie überlegte kurz, einfach im Bad zu verschwinden und so zu tun, als wäre nichts Besonderes vorgefallen. Doch im nächsten Moment schalt sie sich für ihre Feigheit. Wenn sie eines hasste, so war es Heuchelei. Erik war ihr Mann und hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was sie getan hatte. Er sollte die Möglichkeit haben, dazu Stellung zu nehmen, in welcher Form auch immer. Danach würden sie beide gemeinsam entscheiden, wie es weiterging.
Genauso hatten sie es zu Beginn ihrer Beziehung ausgemacht. Für den Fall, dass einer von ihnen beiden jemals einen anderen liebte, wollten sie ehrlich sein. Das hatten sie einander versprochen, und danach würde sie jetzt auch handeln.
Sie setzte sich auf die Bettkante und strich sanft über seine Schulter. Im Schlaf war sein Gesicht entspannt, er sah aus wie ein großer Junge.
Sie drückte seinen Arm, und endlich wachte er auf. Blinzelnd öffnete er die Augen und rollte sich auf den Rücken.
»Du bist ja schon auf«, murmelte er.
»Erik, ich muss dir was sagen«, begann sie ohne besondere Einleitung.
»Klar.« Verschlafen setzte er sich auf. »Aber lass mich erst mal richtig wach werden.«
Hanna konnte nicht mehr warten. »Es ist nicht leicht für mich.« Ihre Hände fingen an zu zittern, und sie ballte sie im Schoß zu Fäusten. »Aber... es ist wichtig...«
Hanna fuhr nervös zusammen, als es im nächsten Moment klopfte. Nicht sicher, ob sie erleichtert oder ungehalten über die Störung sein sollte, stand sie auf und ging zur Tür.
Lotta stand vor ihr. »Ein Fax.« Sie reichte es Hanna. »Ist gerade für Ihren Mann gekommen.«
Hanna bedankte sich geistesabwesend. Nur am Rande bekam sie mit, dass Lotta sich wieder zurückzog und die Tür schloss. Stirnrunzelnd überflog sie das Fax.
»Vom Gericht«, sagte sie zu Erik. »Wieso wissen die denn, wo wir sind?«
Erik schwang die Beine aus dem Bett. »Ich habe da gestern noch angerufen.«
Hanna betrachtete alarmiert das Schreiben. »Erik, was ist das hier?«
Er trat neben sie und schaute ihr über die Schulter. »Alles Blödsinn«, erklärte er, nachdem er das Fax gelesen hatte. »Die Sache ist längst erledigt.« Er nahm ihr das Blatt aus der Hand und zerknüllte es, doch Hanna fing es auf, als er es zur Seite werfen wollte.
Hastig glättete sie es, um es sich erneut anzuschauen. »Wenn ich das richtig verstehe, haben sie dir eine Stelle beim Obersten Verwaltungsgericht angeboten.« Fassungslos blickte sie auf. »Du hast abgelehnt!« Sie schüttelte den Kopf, weil sie es nicht glauben konnte. »Und jetzt
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