Sehnsüchtig (German Edition)
Er öffnet als den Anhang im Mail von Alys Allenbach und beginnt zu lesen.
*
Am Treffpunkt im Hauptbahnhof tobt der Freitagabend. Geschäftsmänner in Grau, Schwarz und Nadelstreifen, die spät aus dem Büro kommen, bahnen sich ihren Weg durch die Menge, wenn nötig mit Ellbogeneinsatz. Reisende mit müden Gesichtern studieren die Abfahrtstafel, kommen jenen in den Weg, die auf jemanden oder einfach auf bessere Zeiten warten, und die wiederum stehen anderen auf die Füsse oder stolpern über Koffer. Jugendliche stehen in Gruppen herum, die Mädchen aufgemotzt für den Ausgang, kurze Röcke, knappe Lederjacken und Schuhe, bei deren Anblick Alys’ Füsse schmerzen. Gleich neben ihr steht eine Gruppe Hippies, die irgendwie fehl am Platz aussehen, als hätte sie die Zeitmaschine im falschen Jahrzehnt ausgespuckt. Es riecht nach Gras. Der Bahnhofsuhr ist das alles egal, sie tickt über den Köpfen ungerührt vor sich hin. Alys wirft immer mal wieder einen Blick auf das weisse Zifferblatt mit den schwarzen Zeigern, fünf Minuten zu spät, zehn Minuten zu spät, 12 Minuten zu spät. Es ist kalt, sie zieht sich den Schal enger um den Hals und wirft einen ungläubigen Blick auf eine Frau in ihrem Alter in durchsichtigen Strümpfen, einem kleinen Schwarzen und einem Blazer. Fröstelt dabei. Alys wirft einen weiteren Blick auf die Uhr, 15 Minuten zu spät. Im selben Moment findet ein langgezogenes „Sorry“ ihr Ohr und Mascha taucht hinter einem älteren Pärchen auf. Beide tragen die gleiche Regenjacke. Partnerlook ... Peinlich ... „Sorry, sorry“, wiederholt Mascha und kommt näher. Sie guckt Alys mit ihren Rehaugen an, macht ein zerknirschtes Gesicht und Alys kann ihr nicht böse sein, obwohl sie es sich fest vorgenommen hat, weil heute nicht die Ausnahme ist sondern die Regel.
„Macht nichts, Schnecke ...“
„Ich wollte dir schreiben, aber ich bin vom Dreh direkt nach Hause gehetzt und hab einen neuen Rekord in Sachen Schnellduschen und Schnell-Stylen aufgestellt. Ich sollte mich für die WM anmelden ...“
Alys grinst. „Du siehst toll aus“, versichert sie ihr. Mascha ist reich an Kurven, und zusammen mit ihrer sonnigen Ausstrahlung braucht sie nicht mehr als ein paar enge Jeans und ihre Wahnsinnshacken – diesmal nietenbesetzte Stiefeletten – um klasse auszusehen. Die Rauschgoldengel-Locken tragen ihr übrigens dazu bei.
„Welcher Dreh?“, fragt sie dann.
Mascha winkt ab. „Die Weihnachtskampagne für diese neue Light-Schokolade. Diese Werbedrehs sind anstrengend und dauern ewig. Morgen geht’s gleich noch einmal weiter. Sie haben diesen Kameramann engagiert, angeblich ‚der Beste seines Fachs’“, sie verzieht das Gesicht. „Er ist eine furchtbare Diva. Aber der Rest des Teams ist klasse.“
„Immerhin etwas.“ Sie drängen sich durch die Menge und nehmen die Rolltreppe nach oben. „Jetzt erzähl schon“, fordert Mascha und stösst Alys sachte ihren Ellbogen in die Seite. „Wie war die Sitzung mit der Sahneschnitte?“ Alys lacht auf. Nur Mascha kommt es in den Sinn, einen Mann ‚Sahneschnitte’ zu nennen. „Die Sitzung war super, aber die Offerte hat er jetzt doch schon über eine Woche und ich hab noch nichts gehört ...“ Ihre Miene verdüstert sich. Dabei hatte ich ein so gutes Gefühl.
„Er hat sicher nur viel um die Ohren. Und wollte er nicht erst noch die Konkurrenz treffen?“
„Doch, er hat auch nicht gesagt, wie lange es dauert. Aber langsam werde ich unsicher.“
„Ach, ich bin sicher, du kriegst den Auftrag“, hält Mascha fest und drückt Alys’ Arm oder das, was sie durch den Wintermantel davon zu fassen kriegt. „Vielleicht. Ich hoffe es ...“
„Du kriegst ihn“, sagt Mascha wieder und klingt vollkommen überzeugt. „Etwas sagt es mir.“
„Jetzt hörst du also schon Stimmen. Ich wusste immer, dass der viele Espresso nicht gut sein kann für dich ...“
„Das sagt mir die Frau, die von Cola Zero, Zigaretten, Gummibärchen und Ravioli aus der Dose lebt. Und jetzt erzähl endlich ...“
„Was willst du wissen?“
„Alles. Von Anfang an.“
„Also ...“ Alys nützt die Kunstpause, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Ich war viel zu früh, wie immer. Und völlig aufgeregt, irgendwie. Er hat ein Atelier in der Altstadt, weisst du, dort in der Nähe der Kathedrale, wo früher die Crème de la Crème gelebt hat. Ich hab ihn angerufen, weil er keine Klingel hat und er ist nach unten gekommen. Er wusste noch, dass wir uns von irgendwo
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