Sehnsüchtig (German Edition)
einen Auftrag bekommen und muss heute länger arbeiten. Ich bin auf dem Weg in die Krippe und schon spät dran ...“
„Ach, darum keuchst du so? Du solltest es mal mit diesem Allerweltsmittel namens Sport versuchen, das soll wahre Wunder wirken ...“
Er lacht und hustet gleich darauf. „Erstens, was ist das? Und zweitens, dafür hab ich zurzeit wirklich keine Zeit ...“
„Das heisst, aus den Aufnahmen heute abend wird nichts? OK, aber damit erweist du Max einen Bärendienst, das ist dir wohl klar! Da nützt dir auch dein Ruf als ‚grosses, neues Ding’ nichts. Er wird dich hassen.“ Max ist der Studioinhaber.
„Ich hab nicht vor, ihm abzusagen. Du und er, ihr kriegt das alleine hin. Ich komme nach, sobald ich kann, versprochen.“
„Du lässt mich die Bass-Lines alleine aufnehmen?“ Sie klingt ungläubig. Gut, eigentlich hat sie ja recht. ‚Perfektionist’ ist noch die netteste Umschreibung, die seine Band hinter seinem Rücken gebraucht. Sie glauben, er wisse nicht, dass sie ihn auch ‚Kontrollfreak’ oder manchmal sogar ‚Noten-Nazi’ nennen . Aber natürlich weiss er es trotzdem.
„Ja, ich lass dich die Bass-Lines alleine aufnehmen“, bestätigt er. Einen Augenblick herrscht Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Wow“, sagt Marlen dann. „Ganz ehrlich, wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich diesen Tag noch erleben werde, hätte ich kein Wort davon geglaubt ...“ Eliot grinst. „Mach das Beste daraus und gewöhn dich nicht zu sehr daran ...“
„Einverstanden.“
„Also, Herrin der Saiten, ich hab’s eilig. Bis später. Und wenn ihr eine Frage habt, ruft einfach an ...“
„Versprochen. Cya ...“
„Bye.“ Er beendet das Gespräch. Im Weitergehen wird ihm klar, dass er immer noch lächelt. Marlen ist über die Jahre so etwas wie die kleine Schwester geworden, die er sich als Einzelkind gewünscht hatte. Er kennt sie, seit sie vor vielen Jahren entschlossenen Schrittes in den Proberaum der Schülerband des Gymnasiums marschiert war und verkündet hatte, sie wolle den frei gewordenen Platz am Bass übernehmen. Sie war 15 und ein Frischling aus dem ersten Jahr. Das war ihre Gothic-Phase gewesen, sie trug ein schwarzes Samtkleid, zu gross und zu weit für ihren zarten Körper. Ihr Haar war dunkelrot gefärbt und biss sich herrlich mit dem roten Lippenstift. Die roten Lippen wurden ihr Markenzeichen und sind das einzige, was die heute 30-Jährige mit ihrer rauen Sinnlichkeit und den Endlos-Beinen mit dem Mädchen von damals gemeinsam hat.
Sie trägt eine ähnliche Nuance wie die Grafikerin. Wie Alys. Vielleicht sogar dieselbe. Er kennt sich nicht aus mit Lippenstiften. Auf jeden Fall steht er beiden, obwohl die eine blond und die andere dunkelhaarig ist.
Er war 18 gewesen damals, ein halbes Jahr vor der Matura, und hatte sich unglaublich cool gefunden. Der blöde Spruch über Frauen am Bass hatte sie nicht abschrecken können, sie hatte nur müde gelächelt und sich den Bass umgeschnallt. Als sie zu spielen begann, blickte er die anderen Jungs an und machte ein erstauntes Gesicht. Von da an hatte Marlen dazugehört: Zu der damaligen Band, zu allen Bands, die folgen sollten, und zu seinem Leben.
Er erwischt den Bus im letzten Moment. Der Busfahrer muss einen guten Tag haben, denn er sieht Eliot heranrennen und öffnet die Tür noch einmal, obwohl er schon den Blinker zur Abfahrt gesetzt hat. „Vielen Dank“, keucht Eliot. Der Busfahrer lächelt und nickt ihm zu. Wahrscheinlich freut er sich, dass für einmal jemand freundlich zu ihm ist. In letzter Zeit häufen sich in der lokalen Presse die Berichte über Beleidigungen und Übergriffe auf das Personal der städtischen Verkehrsbetriebe.
Immer noch schwer atmend lässt sich Eliot in einen Sitz direkt hinter dem Busfahrer fallen . Vielleicht hatte Marlen doch Recht. Sport könnte nicht schaden. Oder weniger rauchen. Mehr schlafen wäre auch nicht schlecht. Heute Nacht war er morgens um drei aufgewacht – mit einem neuen Song im Kopf. An Schlaf war in dieser Situation wie immer nicht mehr zu denken. Also betrachtete er einen Augenblick Irinas Gesicht im Zwielicht. Sie sah friedlich aus und so jung. Dann stieg er aus dem Bett, zog sich an und fuhr ins Atelier. Wie immer legte er ihr eine Nachricht auf den Küchentisch. Sie war es sich gewohnt, dass das Bett neben ihr leer sein konnte, wenn sie erwachte. Und auch daran, dass das mitten in der Nacht der Fall sein kann.
Nach fünf Busstationen steigt er aus und wirft einen
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