Sehnsüchtig (German Edition)
Blick auf das Handydisplay. Gerade noch rechtzeitig. Er biegt in die Nebenstrasse ein, wo sich die Krippe befindet. Bereits kommen ihm die ersten Mütter mit ihren Kinderwägen entgegen. Er drückt auf die Klingel und betritt das Haus. Im Treppenhaus steht normalerweise eine ganze Armada von Kinderwägen, heute sind es nur zwei. Er joggt die Treppe hoch. ‚Bring Bewegung in deinen Alltag’, steht auf den Plakaten der neuesten Gesundheitskampagne der Stadt. Ein ähnliches Plakat war ihm schon im Bus aufgefallen . Mach ich doch.
Im Eingangsbereich der Krippe befindet sich die Garderobe. Die Krippenleiterin verabschiedet sich eben von einer Mutter, die einen etwa zweijährigen Jungen auf dem Arm hat. „Guten Tag“, sagt er. Die Krippenleiterin blickt ihn etwas überrascht an. „Ich komme meine Tochter abholen ...“ Er sieht ihrem Gesicht an, dass sie versucht, ihn einzuordnen. „Lilli Agren ...“, fügt er hinzu. Erkennen leuchtet auf dem Gesicht von Frau Ziegler auf, hiess sie Ziegler? Er ist nicht sicher. „Natürlich, Herr Wagner“, sagt sie jetzt. „Sie ist im Spielzimmer ...“
Er nickt ihr zu und geht durch die Tür. „Ist das nicht dieser Musiker?“, hört er die Mutter mit dem Jungen wispern.
Lilli sitzt mitten im Spielzimmer auf einem farbigen Teppich und stapelt Holzklötze aufeinander, blau auf rot auf gelb, das kleine Gesicht hochkonzentriert. Eine Praktikantin sitzt daneben und betrachtet sie. „Lilli“, sagt er von der Tür her. Seine Tochter blickt auf. Ihr Gesicht leuchtet auf und das schlechte Gewissen, das ihn manchmal plagt, ist auf einmal ganz weit weg. „Dada“, macht sie und krabbelt auf ihn zu. Von Laufen will sie noch nichts wissen, auch wenn sie langsam beginnt, sich an allen möglichen und unmöglichen Orten hochzuziehen und aufzustehen. Sie ist ja auch erst knapp zehn Monate alt. „Dada“, wiederholt sie und beschleunigt ihr Tempo. ‚Dada’ ist ein Allzwecklaut, den sie auf ihn, Irina und sämtliche Tiere anwendet. Sie ist ein ruhiges, eher ernstes Kind, und unkompliziert. Ganz anders als er es gewesen war, wenn man seiner Mutter glauben will. Dafür hat sie sein dunkles Haar und die braunen Augen. „Hoffentlich hat sie deine Nase geerbt“, sagt er manchmal zu Irina.
„Na, Spatz?“, fragt er, hebt sie hoch und schwenkt sie im Kreis. Sie strahlt ihn an. „Mama muss arbeiten“, erklärt er ihr und setzt sie sich auf die Hüfte. Er fühlt einen Blick im Rücken und dreht sich um. Es ist die Praktikantin. Sie ist etwa 18 und trägt die typische Teenagermontur: Leggings und ein T-Shirt, das wohl Kleid sein soll, aber dafür irgendwie zu kurz ist. Bestimmt kombiniert sie es draussen mit diesen unsäglichen Ugg Boots, einer Longchamps-Tasche und einem olivegrünen Parka mit Fellbesatz. Heute sehen irgendwie alle Mädchen gleich aus. Bei dieser Feststellung kommt er sich wieder einmal alt vor, obwohl ganz viele Mädchen wie sie bei den letzten Konzerten in der ersten Reihe standen. Sie vielleicht auch, denn sie erkennt ihn offenbar. Als sie seinen Blick erhascht, wird sie rot und dreht das Gesicht weg. Sie hat einen Ring in der Unterlippe und blondiertes Haar.
In der Garderobe greift er nach Lillis himmelblauer Jacke und der Mütze mit den Bärenohren dran. Irina hat eine Schwäche für Bären und sie tummeln sich überall, als Mobile über Lillis Bett, auf der Wickeltischunterlage und auf vielen Kleidern der Kleinen. Er verabschiedet sich von Frau Ziegler und Lilli winkt ihr zum Abschied, wie sie das gelernt hat. Sie ist eine eifrige und begeisterte Winkerin.
Er setzt Lilli in den Kinderwagen, ein wunderbar altmodisches Modell aus dem Brockenhaus, mit dem er eines Tages nach Hause gekommen war, als Irina schwanger war. „Jetzt hat unsere Tochter auch ihren Oldtimer“, sagte er und küsste sie. Irina hatte gelächelt und später doch darauf bestanden, auch noch einen praktischen und modernen Buggy zu kaufen. Heute aber hat sie sich offenbar für „Lillis Porsche“ entschlossen, wie der Kinderwagen auch heisst. Im echten Porsche darf die Kleine nicht mitfahren, dafür ist das Auto zu alt und zu wenig sicher. Dafür gibt es Irinas Peugeot 308, der hat auch eine Heizung, die funktioniert.
„Der ist doch wirklich viel stilvoller, nicht?“, will er von seiner Tochter wissen und löst die Bremse, die sich wie immer etwas ziert. Er ist erst wenige Schritte weit gekommen als ihn ein schüchternes „Herr Wagner?“ aufhält. Er dreht sich um. Hinter ihm steht die
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