Sehnsüchtig (German Edition)
Licht; das eine ist das Wohnzimmer, das andere müsste das Schlafzimmer sein. Obwohl seine innere Stimme dagegen protestiert, greift er wieder nach dem Handy, sucht die Nummer hervor und ruft an. Gerade als er mit der Mailbox rechnet, hebt sie ab.
„Hallo?“ Sie klingt erstaunt. Nicht wirklich erstaunlich. „Ja, hallo, ich bin’s ... Ich habe ja gesagt, ich würde mich vielleicht heute noch melden.“ Einfach so tun, als sei es nicht unüblich, um diese Uhrzeit noch anzurufen. Wenn sie nicht mit ihm hätte sprechen wollen, wäre sie ja sicher nicht rangegangen. „Ja, stimmt ...“, lautet die Antwort, sie hat jetzt seinen Tonfall drauf, freundlich und als wäre es völlig normal, dass sie um diese Zeit noch telefonieren.
„Ich war gerade in der Nähe und dann ist es mir wieder eingefallen, dass ich dich noch anrufen wollte...“
„Ah, du bist in der Gegend.“
Er blickt immer noch zu ihrem Fenster hoch. Er kann die Schreibtischlampe brennen sehen, aber sie ist nirgends zu sehen. „Eigentlich stehe ich vor deinem Haus“, gibt er nach einem kurzen Zögern zu.
Eine Weile herrscht Schweigen. Er lauscht auf ihren Atem, aber er hört nichts. Im gleichen Moment öffnet sich das Fenster, jenes vom Schlafzimmer, und ihre Silhouette erscheint im Fensterrahmen. Sie beugt sich ein wenig vor und blickt auf den Gehsteig hinunter. Er hebt einen Arm und winkt. Da entdeckt sie ihn, winkt zurück. „Komm doch rauf, es schneit ...“, ruft sie.
„Wirklich? Habe ich dich nicht geweckt?“
Er kann ihr Lachen hören, sie lacht eigentlich selten, ruhig und eher ernst wie sie ist. Es ist dunkel, wie ihre Stimme, die eigentlich gar nicht zu der zarten Person passt. „Nein, ehrlich gesagt hab ich noch gearbeitet.“
Eliot grinst. „Hoffentlich für mich“, ruft er.
„Ich drück dir den Summer“, kommt als Antwort. Dann geht das Fenster zu und sie ist nicht mehr zu sehen.
*
Alys drückt mit einer Hand den Summer und öffnet mit der anderen Hand die Wohnungstür einen Spalt weit. Sie kann hören, wie im Erdgeschoss die Eingangstür aufgestossen wird. Dann kommen rasche Schritte die Treppe hoch. Sie hat noch etwa 25 Sekunden Zeit, dann ist er oben. Sie wirft einen Blick in den Spiegel neben der Tür, mustert kritisch ihre Brille. Mascha bezeichnet sie etwas abfällig als ‚Nerdbrille’. Alys aber mag sie, ihr gefallen starke Formen, ausserdem ist die Brille ziemlich retro – auch das mag sie. Zudem behauptet Mascha ja sowieso, sie sei ein weiblicher Nerd, es passt also. Sie trägt die Brille meistens nur zuhause – oder vielleicht noch fürs Einkaufen. Keine Zeit mehr, sich die Linsen einzusetzen. Im gleichen Moment kommt ein „Hallo“ durch den Türspalt und gleich darauf Eliot. Sie fühlt, wie sich unwillkürlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. Wie jedes Mal, wenn sie ihn sieht. Dann stellt sie fest, dass er ebenfalls eine Brille trägt. Ein ganz ähnliches Modell wie sie. Sie wusste gar nicht, dass er eine braucht. Die beiden Nerds. Ihr Lächeln wird zu einem Grinsen.
„Was amüsiert dich?“ Er klingt ebenfalls amüsiert.
In wenigen Sätzen erzählt sie ihm von Mascha und ihrer Einschätzung ihrer beiden Brillen. Das bringt ihn zum Lachen. „Wir beiden Nerds“, meint er dann. Kannst du Gedanken lesen?
Er schält sich aus seiner Jacke und sie nimmt sie ihm aus der Hand, hängt sie an den Kleiderständer. „Hallo überhaupt“, sagt er im gleichen Moment, beugt sich vor und küsst sie links und rechts auf die Wange. Seine Hand legt sich auf ihre Taille. Überrumpelt hält sie inne und erwidert die Geste dann. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter, fühlt die Wärme seiner Haut durch den roten Stoff seines Hemds. Plötzlich hat sie ein Sturzgefühl im Magen. Rasch, aber nicht so rasch, dass es ihm auffällt, nimmt sie ihre Hand weg und macht einen Schritt rückwärts.
Diese Gefühlsanwandlungen in seiner Gegenwart müssen ein Ende haben. Du bist drauf und dran, dich in deinen Kunden zu verlieben. Deinen vergebenen Kunden. Oder bist es schon. Grossartig, Alys.
Ja, sie hatte ihn auf den ersten Blick faszinierend gefunden als sie ihn im ‚Mon Amour’ auf der Bühne gesehen hatte. Sie hatte sich vielleicht für einen Abend ein wenig in den Mann verguckt, der er auf der Bühne ist, selbstsicher und sexy. Ein Rockstar eben. Mittlerweile kennt sie den echten Menschen hinter der Bühnenfassade. Eliot Wagner, ein Mann aus Fleisch und Blut, ein normaler Bürger, der Steuern und Miete zahlt,
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