Sei gut zu dir, wir brauchen dich
ich »spielerische Ungewissheit« nenne. Wer sie kultiviert, hat beste Aussichten
darauf, seinem Leben jederzeit eine andere Richtung geben zu können, er bleibt lernfähiger und aufgeweckter als all jene,
die ihr Dasein gedanklich schon fertig geplant haben.
So können Sie sich diese Haltung aneignen: Denken Sie einmal an Zeiten zurück, als es Ihnen nicht gut ging. Vielleicht, weil
eine |192| langjährige Beziehung zerbrochen ist, Sie sehr krank waren oder beruflich einen falschen Weg eingeschlagen hatten. Erinnern
Sie sich noch, wie orientierungslos Sie damals waren? Wie Sie Wochen und Monate verbrachten, ohne eine Ahnung, wie es weitergehen
soll?
Wer solche Zeiten schon erlebt hat, weiß, wie sehr das an die Substanz geht. Und wie sehr man sich nach Hilfestellung und
Ermutigung, Impulsen und Optionen sehnt. Das Interessante an diesem Zustand ist aber: Wir sind so wach und offen wie sonst
nie in unserem Leben. Wir gehen auf Menschen zu, mit denen wir sonst – wenn wir fest im Sattel sitzen – vielleicht niemals
sprechen würden. In einem Moment, in dem wir Ängste haben und schutzlos sind, möchten wir reden, uns mitteilen und vom anderen
etwas erfahren – egal, ob das der Arzt ist oder der Taxifahrer, der Kneipenwirt oder der Steuerberater. Und wir hoffen insgeheim,
die anderen könnten unser Bedürfnis nach Unterstützung stillen – mit ein paar verständnisvollen Worten, einigen hilfreichen
Tipps oder einer neuen Chance.
Doch wenn Sie das kennen, dann wissen Sie sicher auch: Diese Offenheit vergeht. Wenn die schlimme Zeit vorüber ist und unser
Leben wieder auf sicheren Füßen steht, ziehen wir uns wieder zurück. Die Gründe dafür sind menschlich: Wir mögen nicht mehr
daran denken, dass wir so verletzlich waren. Es beschämt uns – wir versuchen also, diesen Zustand zu vergessen.
Und genau das ist falsch. Oder besser gesagt: Es ist nicht die richtige Methode, wenn Sie für Veränderungen präpariert sein
möchten. Daher möchte ich Ihnen dazu raten, diese Zeiten, in denen Ihre Seele ausgehungert, Ihr Kopf hellwach und Ihr Herz
weit offen waren, niemals ganz zu verdrängen. Denn es steckt auch ein außerordentlich positives Potenzial darin. Dieser Seelenzustand
lässt sich einsetzen, wenn Sie wieder an einen Punkt geraten, wo Sie Ihrem Leben eine andere Richtung geben wollen. Wer wachsam
und offen ist, dem wird grundlegende Veränderung leichter gelingen.
Daher möchte ich Sie ermuntern: Bewahren Sie sich etwas davon. |193| Halten Sie Ihre Wachsamkeit und Offenheit am Leben. Trainieren Sie täglich, nicht zu satt zu werden. Denn je mehr man wieder
an Lebenssicherheit zurückgewinnt, je mehr kann auch so etwas wie Hochmut entstehen. Der wiederum zieht schlechte Angewohnheiten
nach sich, zum Beispiel, dass wir manchmal denken, es sei unter unserer Würde sich mit gewissen Leuten, Lebensinhalten oder
Lebensformen auseinander zu setzen. Und dann sind wir bald wieder so mit unserem »sicheren« Leben beschäftigt, dass wir gar
nicht mitbekommen, wenn uns tolle Chancen zur Veränderung begegnen, die wie Blumen am Wegesrand blühen und die wir nur zu
pflücken brauchten, wenn wir nicht zu satt wären, uns zu bücken.
Schützen Sie sich vor diesem Hochmut. Schaffen Sie sich irgendein Erinnerungszeichen an schwierige Zeiten, ein Symbol oder
Talisman. Ich selbst trage zu diesem Zweck seit Jahren ein kleines Amulett bei mir. Denn wie jeder Mensch habe auch ich schon
schwierige Zeiten durchlebt und musste durch Talsohlen hindurch. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, diese
Tiefpunkte nicht auszublenden. Das Amulett hilft mir dabei, nicht zu vergessen, wie schwierig und ungewiss es damals war und
welche Menschen mir geholfen haben. So schütze ich mich davor, mich zu sicher, etabliert und arriviert zu fühlen.
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Werden Sie reaktionsschnell
Haben Sie sich einmal gefragt, weshalb eine Schlange ein Kaninchen zu fassen kriegt? Denn das Kaninchen mit seinen langen
Hinterläufen ist im Grunde doch viel schneller als die Schlange. Es kann Haken schlagen und somit derart schnell die Richtung
wechseln wie kaum ein anderes Tier. Trotzdem ist es der Schlange ausgeliefert, denn ein Kaninchen, das sich plötzlich einer
Schlange gegenübersieht, bewegt sich nicht von der Stelle. Es macht von der Möglichkeit |194| zur Flucht, um sein Leben zu retten, keinen Gebrauch, weil es im Schrecken verharrt und erstarrt.
Dasselbe
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