Sei lieb und büße - Thriller

aussagekräftiges Blumengesteck. Sina fällt in einen gemäßigten Laufschritt und läuft die Reihen ab. Bei jedem Grab mit frischem Blumenschmuck liest sie den Namen. Endlich steht sie vor dem richtigen.
    Mia Schmitt.
    Sie rechnet nach. Mia wäre jetzt neunzehn Jahre, ein Jahr jünger als Frederik. Sie ist also mit achtzehn gestorben, über ein halbes Jahr vor Sinas Umzug nach Kranbach. Vielleicht hat sie deswegen noch nie von ihr gehört, obwohl … Max’ Worten nach zu urteilen müsste schon längst jemand Mia erwähnt haben. Frederik. Die Mädchen aus der Mannschaft. Tabea und Bessy.
    Frederik hatte ein schlechtes Gewissen wegen Mia. Angeblich. Aber weshalb? War es Zufall, dass Frederik an diesem Tag einen fast tödlichen Unfall hatte? Oder war es keiner? Eine weitere Frage drängt sich ihr auf und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack: Warum hat er ihr erstes Date ausgerechnet auf diesen Tag gelegt?
    Sinas Augen schweifen über das Grab. Mehrere Gestecke und Sträuße verwandeln es in ein buntes Blumenfeld, aus dem ein Bouquet besonders hervorsticht: ein Herz aus tiefroten Rosen, in dessen Mitte eine einzelne großköpfige weiße Rose prangt. Unter dem Gesteck lugt ein weißes Satinband hervor. UND UNVERGESSEN steht darauf. Sinas Puls beschleunigt sich. Verstohlen blickt sie sich um, ehe sie das Herz ein Stück anhebt, um das zweite Band hervorzuziehen. NOCH UNGESÜHNT prangt in goldenen Buchstaben darauf. Sina lässt die Schleife so blitzartig los, als hätte sie sich verbrannt.
    Rasch erhebt sie sich und wirft einen letzten Blick auf das Grab. Ganz hinten erspäht sie einen Kranz mit zwei roten Schleifen. WIR LIEBEN DICH steht auf der einen, MAMA UND PAPA auf der anderen. Sina wendet sich ab. Warum konnten all diese Menschen Mia nicht helfen, als sie noch gelebt hat? Was ist dir nur passiert, Mia?
    Verwirrt trabt sie zurück zum Ausgang. Das schwere Eisentor ist verschlossen, doch dank der vielen Verzierungen ist es ein Kinderspiel drüberzuklettern. Auf der anderen Seite setzt Sina auf halber Höhe zum Sprung an. Federnd landet sie auf dem Asphalt, neben einer roten Nelke, die jemand verloren haben muss. Sie hebt sie auf, aber ihr welker Blütenkopf hängt so haltlos herab, wie sie sich fühlt.

SAMSTAG, 9.   JUNI 2012
    22
    Das Spiel zieht an ihr vorbei wie ein tausendmal gesehener Film. Sie sieht hin, ohne etwas zu sehen, hört Kommentare, ohne sie wahrzunehmen, fragt sich, ob dies allen Ersatzbankspielern so geht. Noch nie hat sie auf der Ersatzbank gesessen und dass sie heute ihr Dasein auf dem harten Holz fristet, hat nichts mit ihrer Leistung zu tun. Céline will Rache für ihren Zusammenstoß. Verständlich. Aber sie hätte nicht gedacht, dass Céline dafür die Platzierung der Mannschaft gefährdet.
    Als ein Raunen durch die Halle geht, blickt Sina auf. Céline stürmt mit dem Ball zum heimischen Korb, doch im letzten Drittel nimmt eine gegnerische Spielerin ihr den Ball ab, sprintet zurück und wirft den nächsten Korb. Sina schnaubt verächtlich. Ihr hätte diese Spielerin den Ball nicht so leicht abgenommen. Das letzte Spiel haben sie haushoch gewonnen. Ebenso das vorletzte und das davor. Und sie hat mit Abstand die meisten Körbe geworfen. Mit großem Abstand. Jedes Mal. Heute dagegen verlieren sie. Und trotzdem holt Céline sie nicht von der Ersatzbank. Aus Rache. Unfassbar. Wie Rik gesagt hat, Célines Egoismus ist untragbar für das Team. Wenn Frederik davon erfährt, ist Céline ihre Position als Teamkapitän los. Definitiv.
    Der Gedanke ist tröstlich. Ihr Blick wandert über die Zuschauertribüne. Ihr Vater diskutiert aufgeregt mit Ben. Wahrscheinlich lässt er alle Zuschauer im näheren Umkreis wissen, dass dies seiner Tochter, die dort unverständlicherweise auf der Ersatzbank sitzt, nicht passiert wäre … Ihr Blick schweift weiter und bleibt an Laureen, Bessy und Tabea hängen. Sie hat die drei noch nie bei einem Spiel gesehen. Ob sie heute ihretwegen gekommen sind? Falls sie Unterstützung mit Céline braucht? Sina zieht ihren Kopf ein. Will sie das? Würde der Streit zwischen Céline und ihr so nicht nur noch weiter eskalieren? Aber kann sie ihre Hilfe überhaupt ablehnen? Sie knetet nervös ihre Finger.
    Die gegnerische Mannschaft landet einen weiteren Korb. Sina schüttelt missmutig den Kopf. Am liebsten würde sie aufspringen und aufs Spielfeld laufen. Doch wozu? Es ist zu spät. Das Spiel ist verloren. Sie blendet das Desaster auf dem Hallenboden aus und wandert mit ihren