Sei lieb und büße - Thriller
will sowieso nicht hierbleiben. Ja, das ist eine Idee. Prüfungen und weg.
Und was mache ich mit Rik? Wie soll ich ihm das alles beibringen? Er ist bis Freitag im Trainingslager. Ich hoffe nur, dass er dort nicht eine MMS mit dem Foto kriegt. Ich trau mich gar nicht darüber nachzudenken, wie er reagieren würde. Wahrscheinlich sagt er, wir müssen jetzt noch länger warten, bis wir unsere Beziehung offiziell machen können. Ich verstehe ja, dass er einen Ruf als Bundesligaspieler zu verteidigen hat. Deswegen ist es auch okay, dass wir unsere Beziehung geheim halten, bis ich mein Abi habe. Trainer mit Schülerin kommt nicht gut, sagt er immer. Eine Freundin, deren Nacktfoto die Runde macht, ist wohl kaum besser.
Ich habe das Gefühl, ich dreh mich im Kreis. Ich denke und denke und denke und verstehe einfach nicht, wer so was macht und warum und wie es sein kann, dass so viele Menschen mein Foto weiterschicken! Ich hab doch niemandem was getan! Was haben die davon? Ich dachte, ich sei einigermaßen beliebt – warum schreitet dann keiner ein? (Gut, ein paar haben mich verteidigt und getröstet und eine Diskussion in Gang gesetzt, allen voran Céline – das rechne ich ihr echt hoch an.)
Trotzdem bin ich wirklich am Ende. Ich glaube, ich war noch nie so verzweifelt und ich war noch nie so planlos und hilflos und verletzt und beleidigt und beschämt und ich weiß nicht, ach, es ist einfach alles nur zum Kotzen.
MONTAG, 18. JUNI 2012
45
Ewigkeit. Alles dauert heute eine Ewigkeit. Der Unterricht. Die Pausen. Selbst der Weg zum Krankenhaus. Sina biegt um die letzte Kurve. Das Obergeschoss des Krankenhauses erscheint hinter der Stadtbibliothek. Nur noch ein paar Minuten. Mit jedem Meter, den sie sich dem Krankenhaus nähert, schlägt ihr Herz schneller. Pumpert, holpert, verstärkt das Spiel des Magens, der sich wie eine Ziehharmonika zusammen- und auseinanderzubewegen scheint.
Was soll sie sagen? Hi, Rik, wie geht es dir? Nein. Blöd. Wie soll es ihm schon gehen? Schlecht natürlich. Hallo, Rik. Schön dich zu sehen. Banal. Das könnte seine Tante sagen. Oder: Hallo, Rik. Ich freu mich so, dass es dir besser geht. Und wenn es ihm gar nicht besser geht, weil er Schmerzen hat? Oder sie sagt gar nichts, sondern küsst ihn einfach. Ihr Magen zieht sich auf Haselnussgröße zusammen. Super Idee. Während seine Mutter danebensitzt und sich wundert, wer sie ist. Und nicht nur sie, wenn sie Pech und Frederiks Gedächtnis eine Erinnerungslücke hat … Also, andere Strategie. Ein einfaches: Hallo, Rik. Dann abwarten, wie er reagiert. Wenn er nicht reagiert, kann sie sich als Spielerin vorstellen, die im Namen der Mannschaft vorbeikommt. Erinnert er sich an ihren Namen, kommt sie eben vorbei, um ihm gute Besserung zu wünschen. Und falls er sie seiner Mutter als seine Freundin vorstellt, ja dann … Sie seufzt.
Die Schiebetür öffnet sich, Sina betritt das Gebäude, geht am Aufzug vorbei, die Treppen hoch, den gelb gestrichenen Gang entlang. Vor Zimmer 34 hält sie an. Legt das Ohr an die Tür. Lauscht. Stille. Völlige Stille. Totenstille. Ihr Herzschlag verlangsamt sich gleichsam mit der Enttäuschung, die in ihr hochsteigt. Er schläft. Wieder warten. Hoffen. Bangen. Leise öffnet sie die Tür. Erschrickt.
Das Zimmer ist leer. Das Bett bedeckt mit dem grünen Tuch, das die Schwestern für nachfolgende Patienten auf gereinigte Betten legen. Auch der Nachttisch ist leer geräumt. Kein Bär. Kein CD-Player. Keine CDs. Kein Foto. Wo ist Frederik?
Verlegt. Er wurde verlegt. Weil er aufgewacht ist. Vielleicht eine andere Station. Nur verlegt. Wie letzte Woche von der Intensivstation auf diese hier. Sie muss bloß die Schwester fragen, wo er jetzt liegt. Gleich wird sie bei ihm sein. Gleich.
Vor dem Schwesternzimmer hat sich eine Schlange gebildet. Wo kommen all diese Menschen plötzlich her? Eben war der Gang noch wie ausgestorben. Sie reiht sich in die Schlange ein. Hört den Menschen vor ihr zerstreut zu. Hört unsinnige Fragen und unerfüllbare Wünsche, geduldige Antworten, langatmige Erklärungen. »Verlegt. Er wurde nur verlegt. Verlegt. Eine andere Station.« Sie murmelt die Worte vor sich hin, als müsse sie sich selbst überzeugen. Die Worte verschmelzen zu einem Brei, Bilder erscheinen vor ihrem inneren Auge. Der Notarzt. Er kniet. Über Mama. Das grelle Rot der Jacke. Schwarze Buchstaben auf einem neongelben Balken. Schwarzes dichtes Haar. Er schüttelt den Kopf. Nein, nicht den Kopf schütteln. Er darf ihn
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