Sei lieb und büße - Thriller
nicht schütteln. Warum sagt er nichts? Sie sieht zu Papa. Liest die Vorwürfe in seinem Blick. Warum hast du nicht aufgepasst?, sagt er. Warum hast du nicht nach ihr geschaut? Dann das Wort. Schrill wie eine Sirene in der schrecklichen Stille. Herzstillstand. Herz-Still-Stand. Es darf nicht sein. Plötzlich die Hektik. Männer, die assistieren. Wo kommen sie her? Papas Hand auf ihrem Schulterblatt. Er schiebt sie zur Tür. In den Flur. Seine Stimme. Leise. Fast unhörbar. »Du sollst das nicht sehen.«
»Wartest du auf jemanden?«
Sina schreckt hoch. Eine untersetzte Schwester mit kleinen Schweinsäuglein und einem freundlichen Lächeln steht abwartend vor ihr.
»Ich … ich wollte zu Frederik Lofer. Er ist nicht mehr in seinem Zimmer und jetzt wollte ich wissen, wohin er verlegt wurde.«
»Oh.« Das freundliche Lächeln verschwindet, die Schwester senkt den Kopf, als suchte sie etwas auf dem Fußboden. »Tut mir leid. Herr Lofer ist heute Nacht verstorben.«
Nein. Er wurde verlegt. Nur verlegt. Die Schwester irrt sich.
Die Schwester hebt den Kopf. »Tut mir sehr leid. Du bist seine Freundin, nicht?«
Er ist nicht tot. Nicht tot.
Nein!
Nicht tot!
Das Grau des Fußbodens nähert sich und schwappt wieder weg. Sie hört die Schwester, versteht die Worte nicht. Worte. Nur Worte. Was sagt sie? Wie er gestorben ist? Dass es ihre Schuld ist? Weil sie all die Besucher angeschleppt hat? Der Fußboden kommt wieder auf sie zu. Zoomt weg. Verdrängt von der Schwester. So nah. Ihre Nase. Verschwommen. Ihre Stimme. So laut. So schrecklich laut.
Dann wird es schwarz und sie stürzt. Und stürzt. Und stürzt. Und stürzt.
46
»Trink das, Schätzchen, es wird dir guttun.«
Sina spürt die harte Keramiktasse an ihrer Lippe und schmeckt den bitteren Kräutertee. Mutters Allheilmittel. Tee muss bitter sein, wenn er helfen soll. Sie nippt daran. Er ist noch bitterer als sonst. Aber er hilft. Sanftes Prickeln läuft durch ihre Arme, ihre Beine, als würde jemand verdünnte Brause in ihr Blut mischen. Es ist angenehm und unangenehm zugleich. Sie schlürft den heißen Tee in kleinen Schlucken. Konzentriert sich ganz auf die Tasse.
»Sehr gut. Gleich wird es dir besser gehen.« Ihre Mutter setzt sich zu ihr auf das Sofa, streicht ihr sanft die Haare aus der Stirn. »Was für ein schrecklicher Schock für dich.«
Schock.
Frederik.
Vorgestern aufgewacht. Heute tot. Sie konnte sich nicht einmal verabschieden. Ihm nicht ein einziges Mal sagen, wie sehr sie ihn gemocht hat. Und jetzt ist er tot. Auf immer und ewig.
Warum nur? Hat ihn der viele Besuch überanstrengt? Hatte er eine Gehirnblutung? Ihretwegen? Wegen ihres Aufrufs auf Facebook? Wie soll sie mit dieser Schuld leben können? Wie?
Sie schluchzt. Ihre Mutter nimmt ihr die Tasse aus der Hand und stellt sie auf den Wohnzimmertisch.
»Sch-sch-sch.« Tröstend fährt Mutters Hand über ihre Stirn. »Es wird alles gut.«
»Nein! Nichts wird gut!« Sinas Stimme klingt erstickt, während ihr dicke Tränen über die Wangen laufen. »Er ist tot! Wie so-holl es gut we-herden?«
»Psst, Liebes. Das ist der Schock. Du hast ihn sehr gemocht, nicht wahr? Aber du wirst darüber hinwegkommen. Glaub mir. Lass ein wenig Zeit verstreichen, dann sieht alles wieder anders aus.«
»Aber ich bin schuld an seinem Tod!«
»Schätzchen, was redest du nur für einen Unsinn!« Sanft streicht ihre Mutter ihr eine Strähne hinters Ohr. »Du hast doch keine Schuld an Frederiks Tod!«
»Do-hoch!« Ein weiterer Schluchzer schüttelt Sinas Körper. »Ich!«
Ihre Mutter reicht ihr ein Taschentuch.
»Danke.« Sina schnäuzt sich, trocknet Augen und Wangen, schnäuzt sich erneut. »Was soll ich jetzt nur machen?«
»Gar nichts. Einfach hier liegen. An ihn denken. An sein Lachen und an all das, was du an ihm gemocht hast. An sein Training und wie er dir wieder Spaß am Spiel beigebracht hat. An seine Stimme. Seine Augen.«
Sina schließt ihre brennenden Lider. Denkt an Frederik. An seine Stimme. Seine Augen. Seine Lippen. So weich. Nie wieder werden sie ihre Wangen berühren. Nie wieder. Sie schnieft.
»Wenn ich nicht so doof gewesen wäre, würde er noch leben. Ich hab ihm die ganzen Besucher geschickt! Und die Schwester hat gesagt, wenn er zu viel Aufregung hat, kann er eine Gehirnblutung bekommen. Und meinetwegen war es bei ihm wie auf der Kirmes.«
»Das hat sie gesagt?« Ihre Mutter runzelt die Stirn. »Das war dumm von ihr. Dabei hat sie auf mich vorhin einen sehr freundlichen Eindruck
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