Sei lieb und büße - Thriller
manchmal bin ich so wütend, da wünsche ich mir richtig, dass sie einfach aus unserem Leben verschwindet.«
»Aber Sina! Sie ist krank.«
»Ja. Das macht es nicht besser.« Ungestüm zerrt sie an dem bunten Stoff. »Ich weiß, dass ich so was nicht denken darf. Ich liebe Mama ja, nur manchmal fällt es mir sehr schwer.«
Stille. Nicht einmal das Atmen ihres Vaters ist zu hören. Als hätten ihre Worte ihm die Luft geraubt. Ihn in ein Gefühlsvakuum katapultiert, in dem solche Sätze nicht ausgesprochen werden dürfen. Dann kommt ihr Vater zu ihrem Bett und setzt sich neben sie.
»Das verstehe ich, Sina. Oder meinst du, ich habe gelacht, als ich Freitagabend hier angekommen bin? Glaub mir, ich hab mir das Wochenende auch anders vorgestellt. Am Samstag mit dem Zug nach Offenburg, um mir dort diese haltlosen Vorwürfe anzuhören, am Sonntag den ganzen Weg zurück. Und morgen früh um sechs sitze ich schon wieder im Auto und reiße vierhundert Kilometer runter.« Er nimmt Sinas Hand und drückt sie sanft. »Und trotzdem. Wir müssen sie nehmen, wie sie ist. Weil wir sie lieben und sie uns.«
Schließlich klatscht er in die Hände, als müsse er Sina und sich selbst aus einer Trance befreien, und steht übertrieben dynamisch auf. Er schnappt sich mehrere Hosen und Röcke und hängt sie in den Schrank, dann sieht er sich zufrieden im Zimmer um. »Siehst du, alles wieder aufgeräumt.« Als Letztes nimmt er ihr Trikot in die Hand. »Wie geht es eigentlich deinem Trainer? Ist er aus dem Koma aufgewacht?«
»Nein.« Brüsk wendet Sina sich ab und verfrachtet den Stapel T-Shirts in ihrer Hand in die Kommode. Rik. Warum tut es weh, wenn ihr Vater ihn erwähnt? Weil sie immer mehr zu dem Ergebnis kommt, dass Frederik sie nur benutzt hat? Weil er für sie etwas Besonderes ist, während es umgekehrt nie so war und wohl auch nie sein wird, selbst wenn er aufwachen würde?
»Ich hoffe, es geht ihm bald besser.« Ihr Vater mustert sie. »Du magst ihn, nicht wahr?«
Sina verkriecht sich noch tiefer in die Kommode, schichtet Shirts und Shorts um und sortiert die Socken neu. Als sie wieder auftaucht und sich nach ihm umsieht, ist er fort. Stattdessen steht Ben vor ihr.
»Ich hab deinen Akku gefunden. Er lag hinter den Reifen.«
»Danke!« Sina nimmt den Akku und legt ihn in ihr Handy ein. Sogleich piept es. Eine neue Nachricht auf ihrer Mailbox.
Hallo, Sina. Tabea hier. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich bei Rik war. Seine Mom ist bei ihm. Ach ja, und er … also, er ist aufgewacht. Wenn du … Pass auf, wenn du … Ich … Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.
Hektisch spielt Sina die Nachricht ein zweites Mal ab. Dann packt sie Ben an den Schultern und tanzt mit ihm durchs Zimmer. »Er ist aufgewacht! Rik ist aus dem Koma erwacht!«
»Fährst du hin?«
Sina hört auf zu tanzen. »Was denn sonst?«
Da kommt ihr Vater zurück und steckt den Kopf zur Tür herein. »Sina, Ben, essen.«
»Ich esse nicht mit«, sagt Sina, ohne zu zögern. »Frederik ist aufgewacht. Ich muss ins Krankenhaus.«
»Das wird Mama –«
»Papa!«
Er sieht sie an und Sina weiß, dass er aus dem einen Wort alles herausgehört hat, was zu hören war. Ihr Verdruss, immer nach Mutters Pfeife tanzen zu müssen, ihre Ungeduld, Frederik zu sehen, ihre Enttäuschung über seine mangelnde Unterstützung.
»Okay. Du isst kurz mit uns zu Abend und ich fahre dich danach ins Krankenhaus. Dann bist du genauso schnell bei ihm.«
Der Krankenhausgang wirkt heller und der Weg zu Frederiks Zimmer kürzer als sonst. Sosehr sie eben noch kaum abwarten konnte, das Essen zu beenden und loszufahren, so langsam nähert sie sich jetzt seiner Tür. Mit jedem Schritt reduziert sie ihr Tempo, verfällt ins Schlendern. Wie er wohl auf sie reagieren wird? Vielleicht erkennt er sie nicht, weil er einen Gedächtnisverlust erlitten hat. Oder er wundert sich, warum sie ihn besuchen kommt. Was soll sie dann sagen? »Übrigens, Rik, ich bin deine Freundin. Weißt du noch?«
Ihre Brust zieht sich zusammen. Und jetzt? Reingehen oder umdrehen? Was, wenn seine Mutter noch da ist? Wie soll sie sich vorstellen? Sie berührt die Klinke und zieht die Hand wieder zurück.
»Du benimmst dich total lächerlich«, flüstert sie der Tür zu. »Total albern. Jetzt geh schon rein und sag Hallo.«
Mit all ihrem Mut drückt sie die Klinke hinunter und schiebt die Tür auf. Frederik liegt auf dem Bett, hinter ihm summt der Monitor. Seine Augen sind geschlossen, seine Hände liegen
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