Sei lieb und büße - Thriller
Telefon und wählt die 110.
»Polizeinotruf. Wer spricht?«
»Sina Beckhaus. Mein Bruder ist weg.«
»Wie alt ist dein Bruder?« Die monotone Stimme der Polizistin wirkt wie ein Beruhigungsmittel.
»Zehn.«
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
»Heute früh. Ich sollte ihn von der Schule abholen und habe mich verspätet und er war nicht mehr da.«
»Ist das schon öfter vorgekommen?«
»Noch nie! Er darf nicht allein mit dem Rad fahren. Wir sind neu in der Stadt und er kennt sich nicht aus und er hat keinen Orientierungssinn, weil er als Kind von der Wickelkommode gefallen –«
»Keine Angst, Sina«, unterbricht die freundliche Stimme sie. »Wir finden deinen Bruder. Er hat sich wahrscheinlich nur verfahren. Solche Anrufe bekommen wir fast jeden Tag und ein, zwei Stunden später sind die Kinder wieder zu Hause. Wo sind denn deine Eltern?«
»Die sind gerade nicht da. Ich … kann sie nicht erreichen.«
»Und wie alt bist du?« Die Stimme der Frau wirkt plötzlich alarmiert.
»Fast achtzehn. Wenn er sich verfahren hat, dann findet er nie wieder zurück.«
»Hast du schon bei seinen Freunden angerufen?«
»Nein. Er hat nur einen richtigen Freund. Sonst kenne ich keinen, aber ich ruf da sofort an.«
»Hat dein Bruder ein Handy?«
»Geht nur die Mailbox ran. In der Schule stellt er es auf lautlos und dann vergisst er immer, es wieder auf normale Lautstärke zu stellen.«
»Gut, Sina, du rufst jetzt seinen Freund an und, falls möglich, die anderen Kinder aus seiner Klasse und ich schicke einen Streifenwagen bei dir vorbei. Gib mir doch bitte deine Adresse.«
»Hallo, Adrian, hier ist Sina. Ist Ben bei dir?«
»Ben? Nein, natürlich nicht. Der wollte zu dem Treffen mit dir.«
»Treffen mit mir?«, schreit Sina auf. »Was für ein Treffen? Er sollte vor der Schule warten!«
»Mir hat er erzählt, dass du ihn am Kremelwald treffen wolltest.«
Sina hört ein Quietschen und Krachen und Scheppern, gefolgt von einer unbekannten Jungenstimme. »Du hast verloren.«
»Adrian! Was genau hat er dir erzählt? Wo am Kremelwald? Wann?«
»Nach der Schule. Du würdest dort auf ihn warten. Er hat mir deine SMS gezeigt. Was ist eigentlich los?«
»Du hast meine SMS gelesen? Wann denn?«, quiekt Sina in den Hörer.
»Heute Mittag. Er fand’s echt megageil, dass du ihn endlich allein fahren lässt.«
Ohne zu antworten, legt Sina auf. Ihre Hand zittert. Sie hat ihrem Bruder keine SMS geschrieben, sie hatte nicht einmal ihr Handy. Es lag ja den ganzen Tag in der Schule …
Oh, mein Gott! Sinas Herz beginnt, schneller zu schlagen.
Es hat in der Schule gelegen – folglich kann es jeder benutzt haben. Auch jemand, der ihr eine Lehre erteilen will, mithilfe von Ben.
Sie reißt ihre Schultasche vom Boden hoch und leert sie auf dem Küchentisch aus. Das Handy fällt aus der Seitentasche. Mit zitternden Fingern öffnet sie das Mitteilungsmenü. Eine Antwort von Ben. Super. Das schaffe ich auf jeden Fall! Ich fahr auch ganz vorsichtig. Treffe dich dort.
Worauf hat er geantwortet?
Sie geht zu den gesendeten SMS. Wählt die letzte Nachricht. Eine Mitteilung an Ben: Muss noch was im Kremelwald erledigen. Komm dorthin, hab eine Überraschung für dich. Weg ist ganz einfach: immer die Hauptstraße entlang, beim Supermarkt rechts und dann den Schildern folgen.
Sina lässt das Handy sinken. Das ändert alles. Jemand hat Ben in eine Falle gelockt. Die Polizei muss sofort zum Kremelwald …
Es läutet. Überstürzt rennt Sina zur Tür, öffnet und lauscht den schweren Schritten im Treppenhaus, dann sieht sie einen Polizeibeamten die letzten Stufen hochkommen. Sie lässt ihn eintreten und schließt die Tür hinter ihm.
»Bist du Sina?«
Sina bejaht. »Jemand hat Ben in den Kremelwald bestellt. Er ist entführt worden.«
»Immer schön langsam, junge Dame. Eben hatten wir noch eine Vermisstenmeldung, jetzt ist es eine Entführung.«
»Jemand hat ihn in den Kremelwald bestellt und er denkt, ich war es.«
»Du glaubst also, er ist zum Kremelwald gefahren.«
Sina nickt und bemüht sich, die Tränen zurückzuhalten, die sich in immer kürzeren Schüben ankündigen.
Der Polizist zückt ein riesenhaftes Funkgerät und drückt auf einen Knopf. Ein lautes Rauschen ertönt. »Vermisster Junge ist wahrscheinlich im Kremelwald oben. Ist einer von euch in der Nähe?«
Aus dem Gerät knackst und rauscht es. »Wir sind um die Ecke. Hast du eine Beschreibung?«
Der Polizist wendet sich an Sina. »Hast du ein
Weitere Kostenlose Bücher