Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
preis.
Peer Steinbrück kennt nicht nur jeden Roman von John Le Carré, er sitzt auch persönlich in der ersten Reihe, wenn der sein neuestes Werk vorstellt, und unterhält sich anschließend mit dem britischen Schriftsteller bis zum frühen Morgen
in einem Restaurant. Wolfgang Schäuble sucht Abstand zum Tagesgeschäft Politik, wann immer es möglich ist, im Parkett eines Theaters. Klaus Wowereit nimmt sich Zeit für Opern und nicht nur für Modeschauen. Angela Merkel erfüllt zwar ihre Pflichten als Bundeskanzlerin, wenn sie bei den Bayreuther Festspielen dem wartendenVolk zuwinkt, sie freut sich aber wirklich auf Wagners Opern, so wie sie in Berlin jede seltene Gelegenheit nutzt, ein Konzert zu besuchen oder einen Film anzuschauen. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat schon als Stadtrat von Bochum keine Peter-Zadek-Inszenierung versäumt, die unmittelbare Konfrontation auch mit zunächst verstörender Kultur prägt seine bildungssatten, gelassenen Reden bis heute. Gregor Gysi sieht in Thomas Manns Roman »Zauberberg« ein »Jahrhundertbuch, die Beschreibung einer ganzen Welt« und schwört auf Beethoven. Guido Westerwelle sammelt wie Gerhard Schröder moderne Kunst, das Porträt des Altkanzlers für die Galerie des Kanzleramts malte Jörg Immendorf, der wie Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, aber auch DDR-Altmeister Willi Sitte zu den von Schröder bewunderten Künstlern gehörte etc.
Alles also gut?
Alles nur Panikmache?
Sieht doch ganz so aus.
Zumal im Bundestag über Parteigrenzen hinweg Beifall einsetzte, als Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung betonte, dass Kultur keine Subvention sein soll, sondern eine »Investition in ein lebenswertes Deutschland«, Politik niemals für Kunst verantwortlich sei, aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Außer dem Kulturausschuss, in den alle Fraktionen ihre besten Köpfe schicken, gibt es sogar eine Kunstkommission, die darüber befinden darf, welche Werke der Bildenden Kunst im Parlamentsgebäude aufgestellt oder gezeigt werden.
Doch bei manchen Entscheidungen ging es schon vor Jahren so zu wie heutzutage bei der Suche nach Germany’s next Topmodel oder dem Wettbewerb um den Superstar oder bei Rach, dem Restauranttester. Da wurde gezickt und intrigiert und gelästert und abgeschmeckt, und alle redeten mit, besonders laut jene, die eigentlich nichts von dem verstanden, worüber sie redeten, aber als gewählte Vertreter des Volkes darauf bestanden, angehört zu werden.
Als Volkes veröffentlichte Stimmung gegenüber dem für den Reichstag vorgesehenen Werk des weltberühmten Künstlers Hans Haacke Stimmen im Wahlkreis versprach, sobald man sich dagegen aussprach, als sich Mehrheiten in den unmittelbar abzuerntenden Seichtgebieten abzeichneten, kannten viele Abgeordneten keine Parteifreunde mehr. Quer durch alle Fraktionen wuchs unter dem wie immer populären Motto: Und das soll Kunst sein? Und auch noch mit 300 000 Mark bezahlt aus Steuergeldern? der Widerstand gegen den riesigen Holztrog,Titel: »Der Bevölkerung«, für dessen Inhalt jeder Parlamentarier eine Handvoll Erde aus seinem Wahlkreis beisteuern sollte. Die Erde dürfe er wieder symbolisch mitnehmen, wenn er mal aus dem Bundestag ausscheidet.
Die allgemeine Empörung wurde im Herbst 2000 angeführt von »Bild«-Hauern, deren Werke im Gegensatz zu dem von Haacke das Volk bewunderte und deren Schlagzeilen wie »Boykott gegen Bio-Kitsch im Reichstag« das Volk verstand. Wie bei großen moralischen Entscheidungen der Nation – Aufhebung der Verjährungsfrist bei Naziverbrechen, Abtreibungsrecht, Stammzellenforschung – wurde schließlich der Fraktionszwang aufgehoben und namentlich darüber abgestimmt, was Kunst sei und was nicht. 260 Abgeordnete votierten für Haackes Trog, 258 dagegen.
Es war keine Sternstunde des Parlaments, aber eine Premiere
war es schon. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hatten Abgeordnete über Kunst entscheiden dürfen. Früher gab es oft Parlamentarier und Minister, die ihr eigenes Banausentum zum Maßstab für alle hatten machen wollen, doch seit den Sechzigerjahren in der Westrepublik scheiterten alle Versuche am Widerstand gebildeter freier Bürger und der unterstützenden veröffentlichten Meinung.
Auch das unterschied neben so vielem anderen die Bundesrepublik von der DDR, wo die offizielle Wertschätzung von Kunst vom simplen Geschmack der sie betrachtenden Politgreise abhing, aber die eigentliche Kunst heimlich
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