Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
verschiedenen Ansprüche zwischen Arte und Super RTL, gibt es nicht die Belletristik oder die Sachbücher.
Eine Neuordnung wäre eine Kulturrevolution, zugegeben.
Aber vorstellbar:
Ganz oben steht eine Bestsellerliste Belletristik, in der ausschließlich Literatur aufgeführt wird, die diesen Namen verdient. Leicht dahingesagt. Doch wer bestimmt, welche Romane literarische Ansprüche erfüllen? Ist schließlich nicht so einfach zu entscheiden. Und wer muss sich bemühen, die entscheidenden Unterschiede zu benennen? Nein, nicht schon wieder eine Jury. Die Buchhändler, wer denn sonst?
Noch gibt es knapp viertausend unabhängige Buchhandlungen in Deutschland, die das Kulturgut Buch anbieten. Was im gemeinsam erstellten aktuellen Kanon der Buchhändler aufgenommen wurde und was sich dann davon am besten in ihren Geschäften verkauft hat, kommt auf diese Liste. Am Anfang stehe immer die Liebe, schrieb »Literaturen«, das monatliche Zentralorgan der lesenden Intelligenz, nämlich diejenige von Buchhändlern zu einem noch so kleinen Roman, in dem sie das gefunden haben, was sie in den Büchern, die griffbereit neben der Kasse liegen, nicht finden können. Eine Geschichte. Eine Idee. Sprache.
So etwas wie eine gemeinsame Aktion in Sachen Literatur wäre früher nicht zu realisieren gewesen. Es hätte zu lange gedauert, bis alle relevanten Neuerscheinungen gelesen und sortiert und ein entsprechendes Votum weitergegeben worden wären. Heute ginge das täglich und stündlich, weil alle Buchhandlungen auf Knopfdruck online ihre Urteile abgeben könnten. Die müsste ein Webmaster, in dem Fall wäre er ein Bookmaster, beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels koordinieren und anhand der gemailten Bewertungen die Rangliste der literarischen Superstars erstellen. Illusorisch? Eben nicht, kontert die Berliner Buchhändlerin Ruth Klinkenberg, eben nicht, denn es gebe ja jetzt schon Bestseller, die »von Buchhändlern gemacht werden«, und die fänden ihren Weg auf die Listen schlicht durch Mund-zu-Mund-Propaganda unter Kollegen, weitergegeben dann an neugierig fragende Kunden.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die fragenden Kunden kompetente Gesprächspartner in den Buchhandlungen finden. Der verzweifelte Autor eines »Tagesspiegel«-Artikels berichtet von seinen Versuchen, in einer Zweigstelle des Branchenriesen Hugendubel (Jahresumsatz 250 Millionen Euro) den Roman »Das Geld« von Emile Zola, dem
Chronisten der französischen Bürger und Proletarier im 19. Jahrhundert, zu bestellen. Telefonische Auskunft: »Finde ich nicht, Geld, sagen Sie? Schau ich mal am besten unter Ratgebern nach.« Und als ein Bekannter von ihm, diesmal direkt im Laden, das legendäre Hörbuch »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus, gelesen von Helmut Qualtinger, kaufen wollte, gab die Verkäuferin im Computer ein »Helmut Kwaltinger«. Kein Treffer, leider.
Eine zweite Bestsellerliste Belletristik notiert die Favoriten des Massengeschmacks. Auf der erscheint je nach Verkaufserfolg oben oder unten alles, was nach Ansicht der Buchhändler nicht in die anspruchsvolle Liste 1 passt. Man könnte dies auch eine Buchliste des gemeinen Lesevolkes nennen, was aber gemein wäre. Der qualitative Unterschied zwischen Liste 1 und Liste 2 entspricht in etwa dem zwischen Oper und Operette, zwischen Picasso und Jeff Koons, zwischen Sean Connery und Til Schweiger. Wahrscheinlich würde Charlotte Roches Millionenerfolg »Feuchtgebiete« auf eine solche Liste gehören, ebenso alles von Stephenie Meyer oder von Ildiko von Kürthy oder auch Sarah Kuttners Erstling »Mängelexemplar«, der übrigens mit dem Boah-Ey-Satz beginnt: »Eine Depression ist ein fucking Event.« Darauf zumindest muss man erst einmal kommen.
Das kann aber auch nur beurteilen, wer solche Bücher gelesen hat. Die »Feuchtgebiete«, so hört und liest Mann von Leserinnen, das erste Erzeugnis in der beliebten Reihe »Musiksender-Moderatorinnen, die nicht schreiben können, aber plappern, schreiben Bestseller für alle, die plappern können und sonst nichts lesen«, wären unter den anfangs beschriebenen elitären Bedingungen der Vergangenheit von renommierten Verlagen als undruckbar abgelehnt und an die nächsttiefere Instanz weitergereicht worden. Das erging auch Charlotte Roche in der Gegenwart so, bis der Buchverlag
DuMont das Erfolgspotenzial ihrer Tabuzonen erkannte und begeistert zugriff.
Eine richtige Entscheidung. Es war das ideale Produkt für die Zielgruppe der
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