Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
entstand.
Über die Affäre Haacke ist Gras gewachsen, das inzwischen auch in seinem Trog sprießt. Gelassenheit bestimmt das Handeln. Zensur findet nicht mehr statt, selbst da nicht, wo sie stattfinden müsste, bei bestimmten pornografischen Websites im Internet. Alles scheint erlaubt.
Was es allerdings auch den Blödmachern erlaubt, ungestört die Seichtgebiete mit Blöden zu bevölkern.
Und jetzt?
In Berlin hatte das Bezirksamt Pankow eine durchschlagend gute Idee, um die Schmutzfinken unter den Restaurants in seinem Bezirk anzuprangern. Die Inspektoren stellten von entsprechenden Kneipen und Restaurants Fotos aus Küche, Keller, Lokal ins Netz. Jeder Verbraucher konnte sich die genüsslich erschaudernd anschauen. Dafür wurden die einfallsreichen Lokalpolitiker gefeiert. Sie hatten mit einer kleinen Idee Großes bewirkt. Die Wirkung schlug sich nieder auf die Umsätze der betreffenden Wirte.
Daraus ließe sich doch was lernen.
Würde der Börsenverein des Deutschen Buchhandels allen Abgeordneten des Bundestages alle zwei Monate ein Buch, ausgewählt von einer unabhängigen Fachjury, ins Fach legen
zwecks Lektüre, im Sommer gern mal was intelligent Leichteres, könnten ihre Wähler auf deren Homepage klickend nachfragen, ob sie das auch wirklich gelesen haben, und sie bitten, ihr Urteil ins Netz zu stellen.
Eine traumhafte Vorstellung.
Leider aber nur ein Traum.
Denn wie ließe sich überprüfen, ob sie wahrheitsgemäß antworten oder schlicht sich was zurechtlügen?
Geht also nicht.
Man wäre in der Realität aber schon mal dankbar, wenn viele – wie ein gutes Viertel ihrer Wähler auch – zwar nie ein Buch lesen würden, aber wenigstens keins schreiben oder schreiben lassen.
Denn die gedruckten Leerformeln der gewählten Sprachlosen, zu denen auch erwählte Ikonen der versendeten Blöd-formate gehören, tragen wesentlich bei zur Verblödung und Verrohung des Volkes.
Und das ist leider Realität.
Heuchlerisch wäre es, mit dem Finger nur auf andere zu zeigen. Denn auch das gewalttätige Verhalten der Vierten Gewalt ist symptomatisch für die verwahrlosten Sitten. Nach dem Amoklauf von Winnenden wurde zwar in vielen Kommentaren und Leitartikeln voller Betroffenheit gefragt, in welchen Zeiten wir bloß lebten, wenn so etwas Furchtbares sogar in einer schwäbischen Kleinstadt passieren könne und eben nicht nur im fernen Alabama.
In finsteren Zeiten.
Zu den Akteuren auf dieser Bühne zählen skrupellose Blödmacher, die sich als Journalisten ausgeben und dem ehrenwerten Beruf Schande bereiten, Schaden zufügen. Bei einem Ereignis wie dem in Winnenden scheuen sie keine Schweinerei, um sich als Sau bei ihren Vorgesetzten anzubiedern. Die sind nicht besser, denn die haben sie gleichfalls
schamlos auf die Jagd geschickt. Alle sitzen im Glashaus. Ein öffentlich-rechtlicher Sender wollte unbedingt von Frank Nipkau, Chefredakteur der örtlichen »Winnender Zeitung«, wie der in »Panorama« und in der »Zeit« erzählte, Fotos des Attentäters haben und bot als Gegengeschäft an, seine Zeitung bundesweit in der Hauptnachrichtensendung zu nennen. Der anständige Journalist aus der Provinz lehnte ab.
Boulevardzeitungen, und nicht nur die übliche verdächtige »Bild«, deren Redaktion wenigstens um Entschuldigung bat und die druckte, nachdem sie irgendeinen Zehnjährigen abgebildet hatte als Attentäter, luden sich Fotos der Opfer aus dem Internet runter, ohne sich lange darum zu kümmern, ob sie dafür zum Beispiel die Erlaubnis der Eltern, die sie nie bekommen hätten, einholen müssten. Ihre Bluthunde klingelten bei Nachbarn und fragten, ob sie was über die Familie der Opfer oder die des Täters sagen könnten, ließen Briefkästen und Mülltonnen durchwühlen, negierten die Bitte des Pfarrers bei der Trauerfeier, das Fotografieren während der Messe zu unterlassen, klickten eifrig weiter, hielten bar jeder Scham ihre Kameras drauf. Manche Sender schickten in gieriger Hast, die Ersten zu sein, ihre dümmsten Reporter nach Winnenden.
Insofern ist es ein Wunder zu nennen, dass keine von den sich an ihr Mikrofon klammernden Blödtussis das Attentat aus Versehen oder ihrem Weltbild entsprechend ein supergeiles Ding nannten.Verstörten Mitschülern wurden bis zu 100 Euro geboten, falls sie in der Nähe des Tatorts Blumen hinlegen und sich anschließend in Großaufnahme beim Weinen filmen lassen würden.
Soll man heulen?
Nein.
Keulen.
KAPITEL VII
Die Sprache der Sprachlosen
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