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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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bei einer Aufführung von Beethovens fünfter Symphonie bereits nach dem ersten Satz klatschen und sich umschauen, ob die Bierbar schon geöffnet ist, fiele das nicht weiter ins Gewicht. Aber wenn sich die Mehrheit des Deutschen Bundestages anlässlich eines für sie arrangierten Konzertabends so verhält, kann man ins Grübeln kommen und bei der Verwaltung des Bundestages im Namen des Volkes den Antrag stellen, dass es künftig als Angebot für alle Mitglieder des Hohen Hauses Fortbildungskurse in Sachen Kultur gibt.
    Die müssten so organisiert werden wie die Treffen der Anonymen Alkoholiker. Da schämt sich angesichts der Schwächen der anderen auch keiner seiner eigenen und bekennt sich. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen. Es wird nicht gemeinsam nach der Weltenformel geforscht, es wird Kultur nicht gedeutet, sondern konkret an Beispielen erklärt. »Nutzwert« lautet die Devise.Was man nicht weiß, was man aber wissen sollte. Die Reihe steht unter dem bekannten Motto der erfolgreichsten Aufklärungsserie der Fernsehgeschichte, der Sesamstraße , und das lautet einfach: »Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm.«
    Was ist eine Symphonie? Wieso besteht die aus mehreren Sätzen? Wann ist sie zu Ende? Wieso unterscheiden sich Brecht’sche Dramen von denen Goethes? Welche fünfzig Romane der Weltliteratur sollte selbst ein Abgeordneter der CSU gelesen und welche fünfzig US-Filme sogar eine Delegierte der Linken aus Sachsen-Anhalt gesehen haben? Warum wurde einst im Theater beim Satz »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« sowohl in der ersten als auch der zweiten deutschen Diktatur geklatscht? In welchem Stück? Geschrieben von wem? Wer gehört zu den Impressionisten, wer zu Expressionisten, wer zu den Abstrakten, und in welchen Museen in Berlin kann man ihre Werke anschauen? Weshalb stirbt die Protagonistin in »La Bohème«?Von welchen Rockstars außer Udo Lindenberg, den Puhdys und den Scorpions sollten Sozialdemokraten schon mal was gehört haben?
    Alle gebildeten Abgeordneten, die keine Volksvertreterhochschule mehr brauchen, weil sie das bereits alles wissen – und von denen gibt es auch viele -, gewinnen Zeit zum Lesen von Neuerscheinungen und zum Besuch von Neuinszenierungen im Theater und der Oper. In Berlin alles in unmittelbarer Nähe der Politik leicht erreichbar. Noch aber sind viele Politiker geradezu stolz darauf, wenn sie ungefragt, mit dem Unterton, würde ja gern, kann aber nicht, immer wieder beteuern, leider fehle ihnen die Zeit, um Bücher zu lesen, Filme anzuschauen, ins Konzert zu gehen, ins Theater, in die Oper, in eine Ausstellung. Sie müssten sich stattdessen ums große Ganze in Berlin kümmern und zusätzlich noch um kleinere Probleme in ihren Wahlkreisen.
    Es handelt sich dabei um eine kulturelle Verwahrlosung, nicht etwa einfach um eine moralische, die an Leuten wie dem ehemaligen Postchef Klaus Zumwinkel oder dem gefeuerten HypoRealEstate-Manager Georg Funke festgemacht werden kann, am ehemaligen Baulöwen Jürgen
Schneider, der schamlos nach seiner Haftentlassung mit seinen Memoiren durchs Land zog, statt sich schweigend zu schämen dafür, dass er so viele kleine Handwerker in die Pleite gerissen hatte. Es geht nicht um einen VW-Betriebsrat wie Klaus Volkert, der auf Firmenkosten in den Bordellen dieser Welt die Hosen runterließ, nein, es geht nur um Kultur.
    Nur?
    Ein weites Feld.
    Aus den selbst verfassten Angaben der Parlamentarier im Handbuch des Deutschen Bundestages ist zu erfahren, wie alt sie sind und welchen Schulabschluss sie haben, ob sie evangelisch sind oder katholisch oder keins von beiden, ob sie geschieden sind oder verheiratet, ob sie Kinder haben oder nicht, in welchen Ehrenämtern und Beiräten und Ausschüssen sie aktiv sind, welche Spezialgebiete sie beackern und wie hoch ihre Nebeneinkünfte sind.Was da nicht steht: Welches Buch ihr Leben beeinflusst hat, wann auch immer sie es gelesen haben.Welche Musik sie bevorzugen, ob eher Udo Jürgens oder doch Wolfgang Amadeus Mozart, ob sie eine Schwäche für die Oper haben oder nur eine für Musicals, ob sie lieber ins Theater gehen oder lieber ins Kino und welche Filme sie beeindruckt haben.
    Würde jedoch mancher noch unentschlossene Bürger von ihnen gern wissen, diesseits aller hinlänglich bekannten Parteiprogramme, für die sie werben. Ab und zu wird die politische Bühne von einem Spot beleuchtet, dann treten einzelne Volksvertreter ins Licht und geben ihre kulturelle Identität

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