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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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den Anstalten stets mehr als die von ihm. Das machte ihn sogar nach dem Skandal um sublim jahrelang praktizierte Schleichwerbung per Product Placement, aufgedeckt von Volker Lilienthal im Evangelischen Pressedienst (epd), intern aus Mangel an Beweisen unangreifbar. Ein möglicher Kronzeuge, der Einsicht
anbot in Akten und bestimmte Briefwechsel, verstummte aber bestimmt nicht deshalb, weil ihm die ihn plötzlich ereilende Fülle von TV-Aufträgen die Sprache verschlug.
    Wenn Medienkritiker Struve als Totengräber des anspruchsvollen Fernsehens bezeichneten, als geschmacks- und schmerzfreien Förderer von Musikantenstadeln und Seifenopern attackierten, voller Verachtung auf die ARD-eigene Filmeinkaufsorganisation Degeto hinwiesen, die sich ausschließlich am Massengeschmack orientiert und »Schmonzetten im dramaturgischen Einheitsbrei« (so der Bundesverband deutscher Regisseure) ausstößt, konterte er mit der typischen kühlen Gelassenheit des Norddeutschen, er sei als Programmdirektor für die Gesamtquote der ARD zuständig. Also qua Amt für die Nähe des Ersten zum Volk, und nicht dafür, dass ein paar Intellektuelle, zu denen er sich zählt, auf ihrem Level unterhalten werden.
    Seine Argumente nicht von ungefähr, sondern von daher: Es gibt schließlich außer den verjodelten und verkitschten und verblödenden Seichtangeboten tatsächlich spannende Krimis, gewichtige Fernsehfilme, erstklassige Dokumentationen. Nicht zu vergessen bei der Aufzählung die Mutter aller Informationssendungen, die Tagesschau, und die – von Struve auf dreißig statt fünfundvierzig Minuten kastrierten – Polit-Magazine des Ersten. Man möge doch bitte sehr, so Struve, das ganze Bild ARD sehen, nicht nur die einzelnen Ausschnitte betrachten. Zudem hätten doch alle die freie Wahl, ab- oder umzuschalten.
    Das zumindest geht heute einfacher als früher, da sich ein Zuschauer noch erheben musste, um vor seinem Gerät hockend nach Alternativen zu suchen. Die Fernbedienung ist mitverantwortlich für den Quotendruck. Buchstäblich. Wenn sich die Masse langweilt, drückt sie einfach drauf, schaltet um. Was für ein Format, das vielleicht mit besten
Absichten und großen Hoffnungen ins Rennen geschickt worden ist, per Knopfdruck das Todesurteil bedeutet. Die primäre Tugend von Gärtnern, fürsorglich ein zartes, hoffnungsvolles Pflänzchen zu hegen und geduldig zu pflegen und beim Aufwachsen vor Käfern zu schützen, fehlt den Verantwortlichen. Sie würden am liebsten bei Einbruch der Dunkelheit säen und bereits am Tag drauf ernten, wenn ab 9.02 Uhr morgens die Quoten des Vorabends auf ihren Blackberrys und Laptops erscheinen.
    Selbstverständlich hat Struve auch recht, wenn er auf die jedem freistehende Alternative hinweist, sich wiederum per Knopfdruck aus einem bestimmten Programm zu verabschieden und sich in ein passendes neues zu zappen.Täglich gibt es in Konkurrenz zum gnadenlos angekündigten und hemmungslos versendeten Schund gut gemachte spannende, unterhaltende, informative Alternativen zur gefälligen Anschauung. Nicht nur in der ARD, nicht nur im ZDF, nicht nur bei Arte und Phoenix und 3sat, sondern auch bei RTL, Sat.1, ProSieben,VOX usw.
    Stets war die weißhaarige graue Eminenz der ARD bereit, ihre breite Brust zu öffnen und wie einst der heilige Sebastian die Pfeile der Gegner auf sich zu ziehen. Der Schmerz gehörte zum Amt und war im Gehalt inbegriffen. Schmerzensgeld und Schmutzzulagen in solchen Jobs verpflichten zu manchmal schmerzlichen, schmutzigen Entscheidungen. Sie stehen deshalb auch Chefredakteuren oder Fußballtrainern zu, die über Nacht entlassen werden können. Ein so jähes Ende stand bei Struve aber nie zur Debatte. In öffentlich-rechtlichen Anstalten fest verwurzelte Fernsehschaffende sind wie Beamte unkündbar. Auch das unterscheidet sie von ihren Konkurrenten.
    Bei Privaten wird nach dem amerikanischen Hire-and-Fire-Prinzip verfahren. Man ist hierzulande noch nicht so
weit wie die drüben, wo ab einer bestimmten Position jede und jeder den kleinen Karton unterm Schreibtisch verstaut hat, in den bei einem plötzlichen Abschied die persönlichen Habseligkeiten passen. Aus dem Fernsehen kennt in diesen verlustreichen Zeiten selbst der durchschnittliche deutsche Zuschauer solche Sitten, nachdem er gesehen hat, wie die bei Lehman Brothers fest angestellten Brüder und Schwestern nach der Pleite der Investmentbank in New York und in London mit ihren Kartons bepackt einen Abgang von der Bühne der

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