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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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ihrer Zuschauer eingeschätzt hatten, ließ sich nicht nur ablesen an der hohen Einschaltquote – womit die heute zur Grundausbildung der TV-Verantwortlichen zählende Lehrmeinung, am meisten Quote würden Tote machen, geboren war -, sondern auch an den Anrufen beim Sender am Tag nach der Ausstrahlung. Es meldeten sich viele Männer, die wissen wollten, wann und wo die nächste Auswahl des WDR für Kandidaten stattfinden würde. Sie seien sowohl für die Rolle des Killers als auch für die des Opfers geeignet und selbstverständlich bereit, alle ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen. Auch die, im Fall eines Countdowns notfalls zu töten.
    Das meinten sie wirklich ernst. Sie waren tatsächlich bereit, notfalls zu töten. Nicht erst die jungen Verblödeten von heute wären bereit, unter allen Umständen alles zu tun, um bei einem Casting in die Endausscheidung zu kommen und dann je nach Ausgang für zwei Minuten oder zwei Monate berühmt zu werden. Beim allgemeinen Rattenrennen konnte schon damals fest auf Voyeure, Gierige, Irre, Blöde gezählt werden. Dass im Millionenspiel einer den Spielleiter verkörperte und die fiktive Menschenjagd moderierend begleitete, der auch im normalen Showleben als Master galt, war ein genialer Einfall der Macher. So was wie Dieter Thomas Heck wurde mit Dieter Thomas Heck ideal besetzt.
    Sogar die Reporter, die Heck im Spielrahmen der fiktiven Show losschickte, um in der Wirklichkeit deutscher Fußgängerzonen Passanten zu interviewen – »Darf man so was oder darf man das nicht?«, lautete ihre Frage -, waren aus dem echten Fernsehen bekannt. Die Befragten dachten sich deshalb
nichts dabei, als vertraute Fernsehgesichter ihnen das Mikrofon vor- und die Kamera ins Gesicht hielten – sie wollten vielmehr wissen, wann ihre Antworten denn gesendet würden. Die Mehrheit der befragten Normaldeutschen fand die Idee toll, sehr modern und die Show deshalb spannend. Einige wenige fragten entsetzt zurück, ob denn alle verrückt geworden seien.
    Ganz so tief wie in dieser einst gemein ernst gemeinten Satire haben die Gärtner der Seichtgebiete auf der Suche nach der ultimativen Quote bislang nicht gegraben. Es gibt noch moralische Grenzen. Es wird noch nicht live gekillt.
    Gestorben allerdings schon.
    Und zwar live.
    Die damals 20-jährige britische Arzthelfern Jade Goody, unbelastet von schulischen Abschlüssen, wurde 2002 in England bekannt durch ihre Auftritte in Big Brother . Sie benahm sich, wie sie sich auch ohne laufend auf sie gerichtete Kameras im Alltag benommen hätte.Was einst als unmöglich galt – Prolos in ihrer Ursprünglichkeit zu versenden -, war das Erfolgsgeheimnis der Sendung. Jade vögelte vor laufender Kamera – Warum auch sollte ihr nicht gestattet sein, was Paris Hilton erlaubt ist? -, gab fröhlich zu, so blöd zu sein wie die meisten Zuschauer, belegbar durch ihren Intelligenzquotienten, aber genauso wie die Big-Brother -Zielgruppe keinen Anlass zu sehen, sich deswegen schämen zu müssen.
    Dafür wurde sie von der englischen Unterschicht – die traditionell auf ihre Klasse stolz ist und mit gestrecktem Mittelfinger die da oben verachtet, von deren Sex- und Machtspielchen sie aus der eigens für ihre Bedürfnisse produzierten Massenpresse weiß – geliebt, verehrt, bewundert. Je heftiger die Oberschicht polemisieren ließ gegen die Show und gegen ihren ordinären Star, desto mehr wuchs in der Unterschicht Miss Piggys Ruhm.
    Den vermarktete sie in einer Autobiografie, die sie, wie andere Promis ja auch, nicht selbst verfasste, mit einem Parfüm namens »Shhhh«, das sie selbst betörend fand. Da sie nichts zu verlieren hatte, gewann sie alles. Die als Tochter eines drogenabhängigen Kleinganoven in armen Verhältnissen aufgewachsene Engländerin verdiente am Ruhm der kommenden Jahre drei Millionen Euro, die sie – getreu dem Motto der heimischen Umgebung:Was die da oben können, das können wir auch, falls wir zu Geld kommen – sowohl in einer protzigen Villa anlegte als auch im Statusauto der feineren Briten, einem Bentley.
    Bei der nächsten Staffel von Big Brother war sie schon nicht mehr nur irgendeine tätowierte Blödtussi aus irgendeinem der zahlreichen englischen Problemstadtviertel, sondern gehörte zu jenen Ikonen der dortigen Seichtgebiete, mit denen das Prekariat vor die Glotze gelockt wird, um die aus ihren Biotopen zu sehen, die es nach oben geschafft hatten. Wie manches Mal im Leben folgte dem schnellen TV-Ruhm der jähe Absturz. Als Jade Goody

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