Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
solche Sendungen nie zugemutet, weder Abende der Volksmusik noch Heimatschnulzen der Berge und Täler, weder die Verbotene Liebe noch den Marienhof , weder den Sturm der Liebe noch die Roten Rosen , hat lieber die Übertragung einer Mozart-Oper auf 3sat genossen oder sich bei einem intensiven Abendmahl einer aufstrebenden Seriendarstellerin gewidmet.
Erst nach seiner Pensionierung ereilte ihn die gerechte Strafe für sein jahrelanges Treiben und das Schielen nach noch ausbeutbaren Trieben der Unterschicht. Doktor Struve, seit 2008 Rentner mit Ruhesitz in Los Angeles, muss als einer von drei Gastgebern die regionale Talkrunde Riverboat in den MDR-Seichtgebieten des Ostens moderieren. Weil offenbar trotz intensiver Castings in allen Sendern der ARD niemand außer ihm als dritter Mann infrage kam, fliegt Struve seit März 2009 regelmäßig aus L.A. nach Dresden, um freitagabends ein paar Fragen zu stellen. Die ihm verpflichteten alten Freunde aus seinen aktiven Zeiten waren bei der Premiere vor Ort und lobten pflichteifrig das Können des Meisters. Einer hat ihnen das nicht geglaubt, weil er nicht so blöde ist – Struve selbst.
Sein Nachfolger, nunmehr als Programmdirektor zuständig für die Pflege des großen Gartens ARD,Volker Herres, grenzt sich von den Privaten kämpferisch ab, was die eigenen Leute motiviert. Bei der Konkurrenz gebe es bis auf einige wenige Spartenkanäle keine journalistische Berichterstattung mehr, sondern Boulevardmagazine, die sich »den Nachrichten-Pelz nur überwerfen«, wie er in der »Frankfurter Rundschau« betonte: »Wo unsere Information zu 80 Prozent aus Politik, Kultur und Wirtschaft besteht, haben die Privaten Rotlicht und Blaulicht.« Diese beiden Farben stehen im Branchenjargon für allseits beliebte Magazine über Sex and Crime.
In der Beurteilung seines Vorgängers schlägt er ein paar feine, gemeine Töne an. Sie klingen ähnlich wie eine Bemerkung im Arbeitszeugnis, mit der dem scheidenden Mitarbeiter XY attestiert wird, dass er sich immer bemüht habe, recht pünktlich zu sein. Was eine solche Formulierung in Wahrheit aussagt, ist unter Eingeweihten bekannt – der Scheidende habe es leider nicht immer auf den Punkt geschafft trotz all seiner Bemühungen.
In diesem Sinne dürfte das Lob von Herres zu verstehen sein – was er wahrscheinlich umgehend mit Abscheu und Empörung als üble Unterstellung zurückweisen würde: Günter Struve sei eines der »ganz großen Talente im Fernsehen«,
das versucht (!) habe, »unter schwierigsten Bedingungen [...] eine Balance zu finden zwischen inhaltlichem Anspruch und dem, was wir leisten müssen«.
Wenn die wollen, können die viel leisten. Konnten die immer schon. Zum Beispiel hohe Qualität verbinden mit hoher Quote. Das eine schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil.
Als 1970 die ARD in der fiktiven Show Das Millionenspiel zur besten Sendezeit durchspielte (Drehbuch: Wolfgang Menge, Regie: Tom Toelle), was künftig im Fernsehen vielleicht möglich sein, oder besser: was dem Volk drohen könnte, und nicht ahnte, wie nahe sie damit der künftigen Wirklichkeit kam, schrieb der junge Intellektuelle Günter Struve noch geistreiche Reden für den Kandidaten Willy Brandt und himmelte dabei im Wahlkampfbüro der SPD in Berlin die schöne Gudrun Ensslin an. Die seichtreiche Welt, die dann mal seine werden sollte, lag dem Sozialdemokraten damals noch fern.
Im Millionenspiel ging es um Leben und Tod, aber nicht wie üblich in einem Krimi bei der Jagd der Guten nach den Bösen, sondern in einer scheinbar normalen Unterhaltungsshow. Ein Mann wird von drei Killern durchs Land gejagt. Falls die ihn erwischen, bekommen sie vom Sender eine Abschussprämie von 120 000 Mark, falls dagegen er lebend das Ziel erreicht, erhält er 1,2 Millionen. Ausgedacht und inszeniert, als sei es eine TV-Show, in der tatsächlich gemordet wird zur allgemeinen Entspannung und Erheiterung, eine konsequent mörderische Fortentwicklung der bis dahin bekannt friedfertigen Showformate. In denen wurden zwar auch Wettkönige gekürt – am Ende sollte dank der stets freundlichen Spielleiter Hans-Joachim Kulenkampff oder Peter Frankenfeld immer einer gewinnen -, aber auch die Ausgeschiedenen überlebten fröhlich ihre Niederlage.
Heute würde man solche Familienshows natürlich anders verkaufen, als die Suche nach dem Samstagabend-Superstar der ARD vermarkten.
Wie genial Menge und Toelle die vergrabenen, bis dahin noch nicht als Potenzial entdeckten Bedürfnisse
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