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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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er ist also gerade das Gegenteil von dem, was sich hier empfiehlt. – Übrigens, die Bezeichnung ›Raritäten‹ ist gut, fast noch präziser als ›Menschen‹. Ich warne dich aber, etwas von deinem Vorleben durchblicken zu lassen; du weißt, wie du alsdann hier ankommst. – – Nun Schluß!«
    »Zunächst –« sprach er im Weitergehen, »will ich dir den Bürgermeister zeigen. Für die laufende Epoche hat Herr Geheimrat Goethe den Posten und wird ihn voraussichtlich noch lange behalten. Schon wird es dunkel, deshalb wollen wir uns ein wenig beeilen.« Er schritt auf seinen elastischen Sohlen vor Boggi her. Ein besonders schönes Haus mit weißer Diele war erreicht. Es bildete den Beschluß des Dörfchens, das sie inzwischen ganz durchwandert hatten. Vor der mit Lorbeerbäumchen in hübschen Abständen flankierten Tür stand eine runde Taxuslaube, auf die ein schnurgerader Weg von der Straße zuführte, an reinlich und symmetrisch bepflanzten Tulpenbeeten vorbei. In dieser Laube saß ein alter Herr in einem seidenen Schlafrock. Die Stirn, wie eine glatte Elfenbeintafel, war geneigt, sinnend geneigt über ein Gänseblümchen, das die Finger langsam zerpflückten. Boggi weidete sich an dem Bilde und trat dann zurück.
    »Nun will ich dir auch erklären,« sprach Gabriel, »womit man sich hier beschäftigt –: Man staunt .«
    »Wie –?«
    »Man staunt«, wiederholte Gabriel ehrfurchtsvoll. »Und wer am erstauntesten ist, bleibt hier der Größte.«
    Boggi kam ein Lachen an, er unterdrückte es.
    »Sieh,« sagte der Knabe traulich, »ihr seid recht arm, daß ihr das nicht fassen könnt. Dieser alte Herr sitzt hier, stundenlang, in der Laube und staunt eine Grasrispe oder ein Gänseblümchen an. Er hat den ganzen Kreis durchlaufen, ist auf allen Abwegen gepilgert, ohne doch die große Straße aus dem Auge zu verlieren, ist Herr über sämtliche großen Wörter und Herr über sich; ja, er hat in seinen Augen die Welt wie in einem Spiegel eingefangen und alles eingeschlossen. Und als er zu Ende war, glaubte er wohl, seinen Kreis erfüllt zu haben, und das war eine Leistung, das gibst du wohl zu.«
    Sie gingen weiter.
    »Nun, als er heraufkam, bildete er sich wohl ein: Ich bin zu Ende; hier kann man mir nichts Neues mehr bieten. Weit gefehlt! – Er ist nicht alterskindlich, wie du ihn so siehst; da er sehr, sehr schwer erschöpflich ist, verfiel er auf die Einzelheiten und blieb darin stecken wie ein empfängliches Kind. Er fängt von vorne an. Er verfällt wieder auf das Einfachste: die Symmetrie, und weiß sich nicht zu helfen vor Freude über ein Blümchen. Er wird noch lang, lang über dem Blümchen träumen . . . er ist der Vertrauensmann des Chefs. Ihr glaubt nicht, wie wenig weit ihr anderen gekommen seid. Ihr seid Grashüpfer, und er ist ein Vogel. Ihr wuchert mit einem Pfunde, das ihr nie erkannt habt . . .«
    Inzwischen war die Abendsonne gekommen, und alle Fenster brannten. – Sie kamen noch an vielen Gärtchen vorüber, und überall saßen Leute und lächelten; der Widerschein der blitzenden Fenster schien dies Lächeln auf ihren Gesichtern hervorzurufen. – – Da hörten sie ein Trommeln, ein leises Pochen, und als sie hinzutraten, saß dort ein kleiner, häßlicher Mann. Sein Kopf, von schwarzem, ungepflegtem Haar umwuchert, wiegte sich leise, und sein bartloses Gesicht blickte stumpf und beinahe grollend auf ein Instrument, ein Spinett ohne Saiten, auf dessen perlmutterne Tasten er nachdenklich seine Finger drückte.
    »Dies ist der stärkste Illusionist, den wir haben«, erklärte Gabriel. »Er ist völlig taub, doch alle Saiten, die er braucht, klingen in seinem Kopf. Er beschäftigt sich schon lange mit dem Wesen einer einzigen, simplen Tonfigur, einem Mollakkord: er ist stets erschüttert und voller Andacht, er hört und fühlt nichts anderes mehr. Das ist Liebe. Er hat seinerzeit alle Leidenschaften prächtig instrumentiert; jetzt fängt er von vorne an und bestaunt die einfachste Harmonie, findet das ›Quid divinum‹ im Urstoff wieder. Man kann zweifeln, wem von den beiden, dem Bürgermeister oder diesem Spinettmann hier, der Vorrang gebührt, denn sie machen sich, ohne es zu wollen, erhebliche Konkurrenz.«
    Beethoven sah auf und sandte ihnen einen einsamen Blick zu; augenscheinlich störten sie ihn. Sie wanderten weiter. »Du wirst morgen«, sagte Gabriel, »noch genug Gelegenheit haben, dir die Einwohnerschaft zu betrachten. Die regsameren, noch nicht ganz eingesessenen, sind am

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