Seidendrachen
dabei, wie um sich selbst bei Besinnung zu halten. Schließlich war er im Dienst! „Ich weiß. Niemand darf erfahren“, flüsterte Akio genauso leise zurück.
Allein die Melodie in seiner Stimme ließ einen wohligen Schauer über Jarins Rücken laufen. Dann fügte der kleine Asiate in fremder Sprache einige Sätze hinzu, die Jarin nicht verstand. Sie klangen dennoch zärtlich und beruhigend. Sein Herz raste. Wie sollten sie das, was sie sich da gegenseitig offenbarten, vor der Außenwelt geheim halten? Vor allem vor Nicolas, der selbst bereits versucht hatte, Jarin zu verführen? Wäre er vor wenigen Wochen so geduldig und ruhig vorgegangen wie nun Akio, wer weiß, was da geschehen wäre. Jarin strich über die schwarzen Haare seines neu gewonnen Freundes.
„Wir sind hier nicht sicher. Trotz des Turniers könnte jederzeit einer der anderen Bediensteten hereinkommen“, mahnte er. „Außerdem muss deine Arbeit fertig werden. Lass mich besser gehen, sonst weiß ich nicht, was mit uns geschehen wird.“
Akio löste sich nur ungern und blickte zu dem blonden Jungen hoch. „Es wird geschehen“, versprach er. Jarin wurde heiß bei diesem Gedanken. Dachte Akio tatsächlich an das Gleiche wie er? Wieder lächelte der dunkelhaarige Junge verständnisvoll. Und dann sagte er etwas, dass Jarins Gefühle wieder abkühlte: „Einmal du mich loslassen musst.“ Was meinte er bloß damit?
Akio schaute ihn weiter direkt an. Seine grünen Mandelaugen durchdrangen Jarins Seele. „Du hast viel Macht“, sagte er leise. „Macht, die man dir genommen hat vor langer Zeit“.
„Wie bitte?“ fragte Jarin verwirrt. „Dein Vater mächtig sein, aber alt. Dein Bruder nun bald seinen Platz einnehmen wird.“
„Ich habe keinen Bruder.“
„Oh doch, du hast“, beharrte Akio.
„Unsinn. Ich bin in einem Kloster erzogen worden. Man fand mich dort ausgesetzt vor der Pforte.“
Akio schüttelte den Kopf. „Das nicht die Wahrheit.“
Jarin wusste nicht, was er von diesen Worten halten sollte. Er war sich sicher, dass Akio ihn nicht anlog. Aber das alles klang so verwirrend.
„Woher willst du das alles wissen?“
„Meine Seele hat die deine berührt schon vor langer Zeit. Ich bin ein Sohn des Drachen. Du der Sohn…“ Akio überlegte. „…einer irdischen Macht. Aber eines Tages wir wieder werden eins.“
Nun war Jarin komplett durcheinander. Er bückte sich, um seine Kleidungsstücke wieder anzuziehen und fühlte, wie Akio diesmal ihn betrachtete. Er wünschte sich, dass seine Blicke Berührungen wären. Dennoch versuchte er, seine Gedanken in eine andere Bahn zu lenken.
„Was bedeutet ein Sohn des Drachen?“, fragte er deshalb wie beiläufig.
Akio wandte sich ab. Was sollte das nun wieder? Der junge Seidenmaler ging langsam zu der Fensterfront hinüber. Es würde ein herrlicher Frühlingstag werden. Ohne sich umzudrehen, erklärte Akio ihm: „Ich Sohn einer Schamanin. Meine Mutter mich nicht lange behalten durfte, weil mein Vater Ausländer war. Ihre Familie sie sonst für immer verstoßen hätte. Normalerweise man mich hätte getötet, aber ihre Familie mich verkauft mit zehn Jahren wegen der Farbe meiner Augen. Meine Mutter mich lehrte viele Dinge über die Welt der Geister und Ahnen, weihte mich ein in die alte Magie. Und die Geister mir erzählen viele Dinge über die Menschen. Sie mich auch lehren, meine Bilder zu malen.“
Am liebsten hätte Jarin laut aufgelacht. Geister! Wer glaubte denn an so was? Aber dann erinnerte er sich daran, dass ja auch die Christen an Engel, den Teufel und die ewige Verdammnis glaubten. Gab es da einen so großen Unterschied zwischen den Religionen? Pater Simon und Abt Clement hätten Akios Aussage als Besessenheit und seine Kunst bestimmt als Teufelswerk bezeichnet.
„Sag das niemanden, Akio. Hörst du“, warnte er seinen Freund eindringlich und trat zu ihm. Er legte seine Hände auf die schmalen Schultern. „Sie könnten dich für deinen Glauben ins Gefängnis stecken oder gar töten. Das wäre furchtbar.“
Akio lehnte sich an Jarin, dessen Händen nun an den Armen des Freundes hinunterglitten. „Ich darf dich nicht wieder verlieren“, seufzte er, während er sein Gesicht in den nach Sandelholz duftenden dunklen Haaren vergrub.
*
Kurz nach Ende des Turniers erhielt Nicolas de Vervier durch einen Kurier die Nachricht vom Tode seines Vaters. Seine Tante Marie-Louise bat ihn, unverzüglich auf das Gut zurückzukehren und die Geschäfte zu übernehmen. Doch das war
Weitere Kostenlose Bücher